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Literatur: Louise de Vilmorin: „Der Brief im Taxi“

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Rezension von Barbara Hoppe

Louise de Vilmorin: „Der Brief im Taxi“
Coverabbildung © Dörlemann Verlag

Ein Brief mit heiklem Inhalt rutscht aus der Tasche und bleibt in einem Taxi liegen, das mit einem neuen Fahrgast davonfährt. Dieser, Paul, findet das Schreiben, öffnet es nicht, verehrt aber die stadtbekannte Absenderin und will ihr den Brief nur unter der Bedingung eines gemeinsamen Abendessens zurückgeben.

Die Dame, Cécile, ist glücklich mit Gustave, einem aufstrebenden Bankier verheiratet, selbst aber eher unkonventionell und unbekümmert. Sie hat ein enges Verhältnis zu ihrem Bruder, einem Künstler, und schreibt für ihn Drehbücher. Über den verlorenen Brief verliert sie fast den Verstand, große Angst schnürt ihr das Herz zu. Sie fühlt sich von Paul erpresst, verabscheut ihn und verwickelt sich immer mehr in Ausflüchte und Widersprüchlichkeiten, was den Argwohn Gustaves weckt, der ein Verhältnis zwischen Cécile und Paul vermutet. Weit gefehlt – zunächst. Denn erstens kommt es anders und zweitens als man denkt, und am Schluss ist alles, wie es war und doch ganz anders.

Was im Grunde wie ein Kammerspiel daherkommt, entstammt der Feder von Louise de Vilmorin (1902 – 1969), eine französische Adelige, Schriftstellerin, Dichterin und Journalistin, aber vor allem Gesellschaftsdame. Ex-Verlobte von Antoine Saint-Exupéry, verheiratet erst mit dem US-amerikanischen Immobilienmakler Henry Leigh Hunt und dann mit dem Playboy Pál Graf Pálffy de Erdöd. Nach diesen Beziehungen zahlreichen Affären nicht abgeneigt und schließlich langjährige Lebensgefährtin von André Malraux, dem späteren Kulturminister Charles de Gaulles.

Und während in Algerien der Krieg ausbricht und die Fünfte Republik ausgerufen wird, schreibt eine adelige Dame ein kleines Gesellschaftsstück, das charmant-altmodisch daherkommt. In der Tradition einer Balzac’schen Madame Bovary oder Fontanes Effi Briest – doch dankenswerterweise sehr viel knapper gefasst – fragt man sich unweigerlich, ob die Problematik wirklich noch aktuell ist – damals wie heute. In beiden Fällen darf man wohl getrost mit „Ja“ antworten. Man stelle sich vor: Ihr Partner zieht sie ins Vertrauen und durch Ihre Unachtsamkeit könnte das Gesagte in falsche Hände gelangen und damit nicht nur Karriere und Lebensglück Ihres Partners, sondern auch Ihr eigenes zerstören. Von der gesellschaftlichen Ächtung einmal ganz abgesehen. Eine Katastrophe. Louise de Vilmorin, soviel darf man ihr als Kennerin der gehobenen Gesellschaft zutrauen, wusste mit Sicherheit, wovon sie schreibt. Zeitlebens mit Lebemännern umgeben, war ihr klar, wie leicht Aufstieg und Fall in der französischen Gesellschaft möglich waren und wohl auch heute noch sind.

Louise de Vilmorin fängt die Tage der Unruhe, Sorge und Verdächtigungen, das schleichende Gift des Misstrauens unprätentiös, klar, stringent, mit Witz und Humor ein. Flott geschrieben, hält sie sich nicht an endloser Seelenquälerei auf. So schnell es kommt, so schnell ist es auch vorbei. Man rauscht durch die Seiten und wundert sich am Ende, wie ein solcher Sturm plötzlich wieder abflauen kann. Zurück bleiben verwirrte, zerzauste Menschen, die die Kurve noch einmal bekommen haben, ohne wirklich glücklich zu sein, zu den Überlebenden zu gehören.

Louise de Vilmorin
Der Brief im Taxi
Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky
Dörlemann Verlag, Zürich 2016
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