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Kraftvoll: Verena Güntner „Power“

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LiteraturRezension von Barbara Hoppe.


Man kann sich auf Kerze verlassen. Jeder weiß das in ihrem kleinen Dorf mit den knapp 200 Einwohnern. Deswegen begehrt keiner gegen sie auf. Deswegen ist sie „Ein Licht in dieser rabenschwarzen Welt.“ Denn Kerze ist auch selbstbewusst. Es geht nach ihrem Willen, den sie durchzusetzen weiß. Trotzdem vertrauen ihr die Menschen. Aber Kerze nervt auch enorm. Vor allem den Leser. Dieses elfjährige altkluge, klugscheißerische und tyrannische Mädchen, das sich die Menschen gefügig macht und Erwachsene wie Kinder nach Lust und Laune herumkommandiert bis zur Demütigung. Und die sich das erstaunlicherweise widerstandslos gefallen lassen.

„Sie glaubt schon sehr lange daran, dass sich die Welt ihrem Willen beugen wird. Es ist nur eine Frage der Zeit.“

So denkt Kerze. Und das wiederum macht nicht nur sprachlos, sondern lässt erschauern. Es ist das Holz, aus dem zukünftige Trumps, fanatische Terroristen und selbsternannte Sektenführer geschnitzt sind.

Wo sind die Eltern? Eher abwesend. Die Mutter lässt Kerze gewähren und kümmert sich sonst recht wenig um ihre Tochter. Der Vater? Nicht da. Andere Erwachsene? Eher unsichtbar. Bis auf die alte Hitschke, deren Hund Power verloren geht und den Kerze suchen soll. Die alte Lungeroma kreuzt ab und an den Weg und der Großbauer Huber. Dann sind da noch die Kinder. Die Kerze erst belächeln und dann doch mitmachen oder besser: alles mit sich machen lassen.  

Cover: DuMont Buchverlag

Kerze nimmt ihre Aufgabe sehr ernst, um Power zu finden. Schließlich steigert sie sich so sehr in die Suche hinein, dass sie das Verhalten eines Hundes annimmt. Immer häufiger verschwindet sie im Wald, immer mehr Kinder schließen sich ihr an, bis schließlich keines mehr ins Dorf zurückkehrt. Die Kindergemeinschaft hat sich als menschliche Hunde zwischen Bäumen und Laub eingerichtet, trainiert, Hund zu sein und radikalisiert sich sektengleich um ihre Führerin Kerze. So sehr, dass die Eltern vor dem Wald und den eigenen Kindern kapitulieren.

„Power“, dieses so verstörende Roman der Theaterschauspielerin Verena Güntner, ist ein Buch über das Verschwinden, über Lieb- und Sprachlosigkeit, Radikalisierung und gesellschaftliches Versagen. Welche Dynamik spielt sich in einer Gesellschaft ab, die zudem in einem hermetischen Dorf um sich selbst kreist? Verena Güntner führt uns Menschen vor, die zwischen modernem Leben und Mittelalter hin- und herdriften. Hitschke gilt bald als Ausgestoßene, die die Kinder verzaubert hat und Schuld an deren Verschwinden hat. Die Front, die sich gegen sie errichtet, gleicht einer Hexenverfolgung, in der die Unfähigkeit von Miteinander und Empathie zum Ausdruck kommt. Je tiefer man in diese Dorfgemeinschaft schaut, umso dunkler wird es. Gewalt im Alltag, Demütigungen, Verachtung und immer wieder heimliches Verschwinden traumatisieren die Zurückgebliebenen und infizieren die wenig Zugezogenen. Die ehrenhafte Suche der Kinder nach einem kleinen Hund entwickelt sich zu einem radikalen Trip in die Tiefen menschlichen Daseins, Verwilderung, Gewalt und Hörigkeit in alle Richtungen. Das sich am Ende kompositorisch ein Kreis schließt, hinterlässt neben aller Verstörung auch das Gefühl, einem Albtraum entronnen zu sein.

„Power“ ist auf der diesjährigen Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. Ein Roman wie eine Warnung. Entkommen kann man seiner Kraft nicht. Einfach verschwinden, das kann am Ende nur die Hitschke.

Verena Güntner
Power
DuMont Buchverlag, Köln 2020
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Bei Thalia kaufen oder für den Tolino

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3 Gedanken zu „Kraftvoll: Verena Güntner „Power““

  1. Pingback: Der Literatur-Podcast am Sonntag: Verena Güntner “Power” – Feuilletonscout. Das Kulturmagazin für Entdecker

  2. Es ist nicht ihr Debüt!

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    1. Liebe Frau Mergk, vielen Dank für den Hinweis! Sie haben völlig Recht. Mir war es trotz intensiver Beschäftigung mit dem Buch durchgerutscht. Ich habe es nun im Text korrigiert.

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