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Kolumne: Menschen im Museum

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„Das Kind braucht einen Namen“ von Susanne Falk.

Sie kennen das sicher: Man wandelt durch die heiligen Hallen der Kunst und bleibt vor einem Portrait aus dem 17. Jahrhundert stehen. Einem entgegen blickt ein aufmerksames Gesicht mit wachen Augen, umrahmt von einer strengen Frisur mit Kopftuch und man fühlt sofort, dass es da eine Verbindung gibt. Wer ist diese Frau?, fragt sich da der aufmerksame Besucher. Und was will mir dieser Blick sagen? Dann wandern Ihre Augen auf die Bildlegende und dort steht: „Porträt einer Dame“, dazu der Maler und im besten Fall vielleicht noch der ungefähre Zeitrahmen, in dem das Bild entstanden ist. Wer die Dame ist, deren Blick Sie gefangen hält, das erfahren Sie nicht. Ihr Name: vergessen. Ihre Geschichte: nicht überliefert. Alles, was bleibt, ist ein anonymes Gesicht, das Sie nicht loslässt, aber das seine Geschichte auch nicht preisgeben kann und will.

Wer hat das Bild in Auftrag gegeben? Woher stammte die Frau, wo hat sie gelebt? War sie verheiratet, hatte sie Kinder, starb sie jung oder alt? Wir wissen nichts über sie. Diese Augen, die so viel erzählen wollen, sie nehmen ihr Geheimnis mit in ein beinahe anonymes Grab.

Unsere Dame ist damit nicht allein. Fast täglich laufe ich an einem Altwarentandler vorbei, der gleich bei uns ums Eck Verlassenschaften erwirbt und wieder veräußert. In seiner Auslage stapeln sich Fotos in Schwarzweiß und Sepia, aufgenommen um die Jahrhundertwende, voller ernster Frauen-, Männer- und Kindergesichter. Auch ihre Namen sind vergessen, auch ihre Geschichten kennt keiner mehr und niemand weiß, was aus ihnen wurde. Aber ihre Gesichter, die sind noch da, festgehalten für eine kleine Ewigkeit und ohne Bildlegende zur Anonymität verdammt.

Das Entscheidende entschwindet: Wen haben sie geliebt, was haben sie getan, wie haben sie ihre Welt gestaltet?

Plötzlich geht es mit mir durch und ich fange an, Biografien zu erfinden. Das süße Kind mit dem Matrosenkleidchen und den wilden Lockerln braucht doch einen Namen. Es sieht meiner Großmutter ähnlich, also nennen wir es Hildegard. Und der Herr mit dem feschen Schnauzbart? Eindeutig ein Franz, wenn nicht gar ein Franz-Josef. Ich ersinne wilde Biografien, stelle Verwandtschaftsverhältnisse her, wo keine waren und lasse es die sepiafarbenen Menschen im Schaufenster ziemlich bunt treiben.

Und die Dame ohne Namen, die aus dem 17. Jahrhundert? Die wartet noch auf eine neue Identität. Vielleicht fällt Ihnen ja was dazu ein?

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