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Kammersinfonie über die Banalität des Bösen: Stefan Heuckes Bearbeitung von Elisabeth Langgässers Kurzgeschichte „Saisonbeginn“

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Von Stefan Pieper

In einem idyllischen Kurort irgendwo in den Bergen herrscht eitel Sonnenschein. Drei Bauarbeiter verrichten eine scheinbar banale Arbeit. Das Aufstellen eines neues Hinweisschildes am Ortseingang scheint Routine. Aber irgendetwas stimmt nicht an diesem Idyll. Elisabeth Langgässers Kurzgeschichte „Saisonbeginn“ verrät ihre zynische Pointe erst im letzten Moment: „Juden sind in diesem Ort unerwünscht“ steht in bester, deutscher Verbotsschilder-Manier auf dem Schild geschrieben. Was alles zwischen den Zeilen dieser Alltagsreportage aus den 1930er Jahren liegt, bringt der Bochumer Komponist Stefan Heucke in seiner Ersten Kammersinfonie opus 44 zum Ausdruck, die auch auf einer CD auf dem Münsteraner Musicom-Label vorliegt. Ebenso erfuhr das Werk soeben im Recklinghäuser Ruhrfestspielhaus eine bemerkenswerte Neu-Interpretation.

Rezitatorin Gabriele Droste / Foto © Stefan Pieper

Wie so viele Literatur, die unmittelbar nach dem Kriegsende verfasst wurde, ist auch Langgässers Kurzgeschichte aus dem Jahr 1947 so beklemmend nah dran an der Wirklichkeit. Sie legt heute ein detailscharfes Zeugnis über die Banalität des Bösen ab, die in einer allgemeinen Gemütsstumpfheit einen Nährboden hatte.

Die Rezitation in Heuckes kammersinfonischem Melodram verlangt Sprechkunst auf allerhöchstem Niveau im Zusammenwirken mit einer komplexen Klangsprache der Streicher und Holzbläser.  Rezitatorin Gabriele Droste leistete mit ihrer lakonisch wirkenden, aber extrem präsenten Stimme genau dies, damit sich die Doppelbödigkeit einer nur vordergründig heilen Welt ins Bewusstsein einbrennt. Die Musiker im Kassiopeia-Saal waren auf jeden Fall für jede noch so subtile Regung in dieser Komposition hellhörig. Diese nimmt, oft beklemmend lautmalerisch und wie in einer guten Filmmusik so vieles vorweg, was zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingetroffen ist. Flirrende Holzbläser, bebende Tremoloflächen, mysteriöse Crescendi und ein wütend pochendes Klavierspiel deuten an, was sich unheilvoll zusammen braut. Die strenge Tonsprache erinnert zuweilen an Berg, Webern oder Hindemith, leitet daraus aber eine sehr subjektive Handschrift seitens des Gegenwartskomponisten Stefan Heucke ab.Vor allem die vielen chromatischen Glissandi lassen immer wieder fieberhaft die  Spannungskurve hoch schnellen, aber es gibt auch ausgesprochen lyrische Klagegesänge dazwischen. Virtuos leidenschaftlich-drängende Soloparts lösen sich aus dem Orchester – etwa eine klagende Solovioline (Martin Haunhorst), ein melancholisches Cello (Bernhard Schwarz) und schließlich ein bedrohlich donnerndes Klaviersolo von Rainer Maria Klaas, der übrigens diese verdienstvolle Aufführung initiierte.

Langgässers Geschichte nimmt eine Jesusfigur am Wegkreuz in den Blick und pflegt damit eine raffinierte religiöse Überhöhung ein. So wird das Aufstellen des Schildes durch drei Arbeiter im Angesicht des Gekreuzigten zu einer Art modernen Passion im 20. Jahrhundert. Und genau diese Verbindungslinie zeichnet Heuckes Partitur konsequent nach: Choralmelodien lösen sich aus der  modernen Atonalität und es finden sich auf kunstvolle Weise Fugen im Bachschen Sinne und die Form der Passacaglia. Mehr noch: Jeder Abschnitt der Kammersinfonie paraphrasiert einen Satz aus der Kantate „Die letzten sieben Worte Jesu am Kreuz“.

Dirigent Joachim Harder / Foto © Stefan Pieper

Nachdem der letzte Satz die Botschaft des Schildes ausgesprochen hat, müssen alle Worte enden. Aber die Musik darf noch eine Weile in einem tieftraurigen Abgesang enden, der schließlich in heftigen Abwärtsglissandi in einer tiefschwarzen, clusterhaften Dissonanz endet.

Dieses Werk ist dazu angetan, auf der Bühne aufgeführt zu werden, so wie es gerade in Recklinghausen zum Abschluss der Woche der Brüderlichkeit passierte. Die Uraufführung, deren Mitschnitt jetzt auf CD vorliegt, hatte zur Einweihung der Bochumer Synagoge stattgefunden,. Das fordert natürlich zum Vergleich heraus. Das Orchester auf der CD-Aufnahme wird ebenfalls von Joachim Harder dirigiert und treibt die Feinzeichnung der lautmalerisch psychologischen Momente noch weiter auf die Spitze. Rezitatorin Elftraud von Kalckreuth macht ihren Part auch nicht schlecht – aber die durchdringende Präsenz von Gabriele Drostes Rezitation bei der Recklinghäuser Liveaufführung ging in punkto Eindringlichkeit doch noch einen Schritt weiter.

Stefan Heucke hat in den letzten Jahren das Musikleben durch neue Bühnenwerke, ein Tanzoratorium, Messen und moderne Opern bereichert und ist auch aktuell noch sehr produktiv. Am 1.6. 2018 kommt in der Kölner Trinitatiskirche eine neue Komposition zur Uraufführung – sie wird auch auf dem Kultursender WDR 3 live übertragen.

Stefan Heucke, Kammersinfonie opus 44
Musicom CD 031112

Termine mit Aufführungen von „Saisonbeginn“ von Stefan Heucke:
15. 04. 2018, 17 Uhr
Siegen, Nikolaikirche
05. 05. 2018, 18 Uhr
Herne, Kreuzkirche
06. 05. 2018, 17 Uhr
Bochum, Melanchthonkirche
01. 06. 2018, 20 Uhr
Köln, Trinitatiskirche (offizielle Uraufführung mit WDR 3 Live- Übertragung)
02. 06. 2018, 19:30 Uhr
Aachen, Annakirche
03. 06. 2018, 16 Uhr
Düsseldorf, Kirche St. Andreas
9 Epigramme über Mensch, Gott und Ewigkeit op.87a für gemischten Chor a capella nach Texten von Angelus Silesius, Leitung: Georg Hage
Kölner Kantorei

Weitere Termine mit Werken von Stefan Heucke:
01.05.2018, 18 Uhr
Zentrifuge Bonn, 53175 Bonn, Godesberger Allee 70
Drei Eichendorff-Lieder von Robert Schumann für Alt, Klarinette, Horn, Violine, Violoncello und Klavier bearbeitet – Uraufführung
Ingeborg Danz, Alt
Nicolai Pfeffer, Klarinette
Lauren Whitehead, Horn
Peter Stein, Violine
Eglantine Latil, Violoncello
Tobias Krampen, Klavier
im selben Konzert wird gespielt:
II. Kammersinfonie op.88
für Alt, Klarinette, Horn, Violine, Violoncello und Klavier nach einem Gedicht von Joseph von Eichendorff – Uraufführung
Ingeborg Danz, Alt
Nicolai Pfeffer, Klarinette
Lauren Whitehead, Horn
Peter Stein, Violine
Eglantine Latil, Violoncello
Tobias Krampen, Klavier

31.05.2018, 20 Uhr
Palais im Großen Garten, Dresden
II. Klaviersonate op.79
„Nun danket alles Gott“
Martin Stadtfeld, Klavier

 

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