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Jules Massenet: Orchesterlieder – Weltersteinspielungen mit Devos, Dubois, Dupuis, Car, Gens und Santon-Jeffery

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Feuilletonscout Das Kulturmagazin für Entdecker MusikMusikalische Confiserie des Fin de Siècle, gewidmet Opernsängerinnen und -sängern sowie singenden Ehefrauen von Freunden – im französischen Paradies mit einem klingenden Brombeersoufflé in Altrosa. Von Ingobert Waltenberger.

„Wenn Sie Lust haben, das Orchester für Ihre Lieder einzusetzen, scheuen Sie sich nicht, das Orchesterlied ist eine soziale Notwendigkeit; gäbe es mehr davon, würde man in den Konzerten nicht dauernd Opernarien singen, die dort oft einen jämmerlichen Eindruck erwecken.“ Saint-Saëns in einem Brief an Marie Jaëll 1876

Französische Orchesterlieder führen abseits der von Veranstaltern offenbar als repertoiretauglich eingestuften Werke des Hector Berlioz ein Schattendasein im Konzertbetrieb. Im 19. Jahrhundert war es gang und gäbe, neben großen Symphonien, Konzerten oder Ouvertüren, Arien oder kurze Orchesterlieder in ein einziges Soiréen-Programm aufzunehmen. Diese auf die Unterhaltungslust des Publikums zugeschnittene Praxis der scharfen Kontraste ist im Laufe der Zeit komplett verloren gegangen.

Der Verlag Bru Zane hat sich die Mühe gemacht, in den Archiven nach – in der Mehrzahl nicht veröffentlichten und daher bislang auch nicht aufgenommenen – Orchesterliedern zu suchen. Dabei ist man auf mehr als 1000 Lieder gestoßen, von so unterschiedlichen Tonsetzern wie Fauré, Chausson, Franck, Gounod, Dubois, Godard, Vierne, Hahn oder Guilmant in die Welt gesetzt, die alle ihrer klanglichen Auferstehung harren.

Die vorliegende Publikation widmet sich 25 Orchesterliedern des überwiegend als Opernkomponist in die Musikgeschichte eingegangenen Jules Massenet. In der Mehrzahl hören wir kammermusikalisch intim orchestrierte Mélodies, meist mit Streicherdekor sparsam umflort, dazu kommen fallweise Harfe, Klavier, Horn, Holzblasinstrumente, eine römische Trommel oder Tamburin. Der große Bühnenton ist einigen wenigen Liedern wie „Amoureuse“ oder „Je t’aime“ vorbehalten.

Massenet schrieb im Zeitraum von fünfzig Jahren (1862-1912) an die 300 Lieder. Als „leichtfüßig oberflächlich und in süßliche Sentimentalität getunkt“ verschrien, wurden sie lange von Interpreten gemieden, bis große Künstler wie Joan Sutherland und Richard Bonynge begannen, die Akzente mit Weltklasse-Interpretationen zurechtzurücken. Der Musikologe Joel-Marie Fauquet verwies treffend auf eine profunde, facettenreiche Beziehung zwischen Wort und Musik und ein feines Gespür für den richtigen Tonfall, häufig unterstrichen durch eine durchsichtige Harmonik. Er schwärmte – trotz der naturgemäß unterschiedlichen Qualität der Miniaturen – von der prosodischen Geschmeidigkeit der Gesangslinien und der Innovationskraft des Komponisten. Sie als bloße Salonmusik abzutun, hieße den Stellenwert dieser Musik zu verkennen.

Von den 300 Liedern hat Massenet auf Wunsch von und in Dankbarkeit gegenüber berühmten Sängerinnen und Sängern seiner Opern und geistlichen Werke rund 30 Lieder orchestriert. Damals hell leuchtende Sterne am Pariser Opernhimmel wie Marie-Hélène Brunet-Lafleur, Marie Van Zandt (Interpretin der Lakmé bei der Uraufführung), Sibyl Sanderson (sie hatte Massenet zu seinen Opern „Esclarmonde“ und „Thaïs“ inspiriert), der in Belgien aktiven Sopranistin Rachel Neyt oder dem Lyoner Bariton Jean Lassalle (der erste Sindia in der Oper „Le Roi de Lahore“) wurden so zu Initiatoren von – wie nach dem Hören der CD begeistert festzustellen ist – raffiniert orchestrierten lyrischen Szenen. Klarerweise griff Massenet auf seine bekanntesten und erfolgreichsten Stücke wie die Lieder „L’improvisatoire“, „Á Colombine“ oder die drei Hits „Aurore“, „Crépuscule“ und „Musette“ aus dem Zyklus „Poème pastoral“ zurück. Nur das letzte Lied des Albums „La Chanson de Musette“ hat Massenet originär für Orchesterbegleitung geschaffen.

Massenet präferierte zeitgenössische Lyrik, die sich unterschiedlichen Themen, u.a. der Natur oder religiösen Sujets widmete. Den roten Faden seines Schaffens bildet allerdings eine einzige Hommage an die Liebe und die Bewunderung für das zarte Geschlecht. Massenet meinte dazu „Was gibt es anderes im Leben? Ist dieser Punkt nicht der Ursprung aller Dinge und die größte Schönheit, die unsere Existenz erhellt?“. Auf dem Album finden wir folglich nicht zufällig Titel wie „Hymne d’amour“, „“Amoureuse“, „Si tu veux, Mignonne“, Baiser impromptu“, „Je t’aime“ oder „Á Colombine“.

Der Musikkritiker Henry Gauthier Villars sah den Grund der Beliebtheit der Musik Massenets im „Säuseln lüsterner Sentimentalität“. Das heutige Publikum, wohl an Härteres und Heftigeres gewöhnt als an die duftigen Gesangsblüten aus der Feder Massenets, soll sich ungehemmt am Charme der einschmeichelnden Melodien berauschen (mehr als ein angenehmes Schwipserl ist da allerdings nicht drin), sich an der exquisiten Instrumentierung so zart wie Eclairs mit Nougatfüllung und Schokoglasur oder orangenfruchtig wie eine Tarte Tropézienne mit Brioche und Vanillecreme entzücken. Sie können sich aber auch nur einfach eine gute Stunde von der schwungvollen und fein austarierten, grosso modo so urfranzösischen Kunst des Orchestre de chambre de Paris unter der musikalischen Leitung von Hervé Niquet bezaubern lassen. Der Alltag mit seinen Sorgen hat da mal Urlaub. Zumal die Lieder je nach Atmosphäre, Tessitura oder Dramatik vier von Timbre und Stimmtyp her optimal unterschiedlichen Sopranen (Jodie Devos, Chantal Santon, Nicole Car, Véronique Gens), einem kernigen Bariton (Étienne Dupuis) und einem höhenglänzenden Tenor (Cyrille Dubois) zugeteilt sind. Sie alle machen das Album zu einem Hörvergnügen erster Klasse.

Massenet: OrchesterliederOrchestre de chambre de Paris
Hervé Niquet | Dirigent
Jodie Devos | Veronique Gens | Cyrille Dubois
Bru Zane 2022
bei amazon

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