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Georg M. Oswald: „Alle, die du liebst“

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Rezension von Barbara Hoppe

Hartmut Wilke hat eine Bilderbuchkarriere hingelegt: Studium, Freundin, Ehefrau, Kinder und auch mit seiner Tätigkeit als Anwalt ging es stetig bergauf. Als er schließlich mit Anfang fünfzig arriviert als Teilhaber in einer Anwaltskanzlei angekommen ist, wird der Erfolg noch mit der jungen, hübschen Geliebten  – seine Assistentin Ines – gekrönt. Jetzt könnte alles gut sein, doch Georg M. Oswald gönnt uns nicht die Beschreibung eines gelungenen Lebensentwurfs, sondern beginnt in „Alle, die du liebst“ mit der Demontage eines scheinbar perfekten Lebens: Mit Ehefrau Carla beginnt ein Scheidungskrieg und in der Kanzlei taucht die Staatsanwaltschaft auf, um im Verdacht auf Steuerhinterziehung zu ermitteln.

Für Hartmut Wilke kein Grund, in Panik auszubrechen. Viel eher ist es Zeit, die vergangenen Jahre zu reflektieren. Das Ergebnis ist ernüchternd: Carla ist zwar seine große Liebe, aber die Ehe ist vorbei und zu den drei Kindern ist das Verhältnis denkbar schlecht. Besonders mit dem Ältesten, Erik, hat es nie richtig geklappt. Ausgerechnet er ist es nun, der seinen Vater nach Kiani Island im Indischen Ozean einlädt, wo der Sohn eine Strandbar eröffnet hat. Mangels sinnvoller Alternativen und getrieben von dem Wunsch, Erik endlich zu verstehen, überwindet Hartmut Wilke alle Vorbehalte gegenüber der Reise in ein Land, das geprägt ist von politisch-militärischer Unsicherheit, giftigen Tieren und gefährlichen Krankheiten. Er bricht mit Ines auf in unbekanntes Terrain zu einem ihm unbekannt gewordenen Sohn und eine unbekannte Zukunft, wie sich herausstellen soll.

Hier könnte nun ein typisches Szenario beginnen: Vater reist zwecks Aussöhnung zum Sohn in ein fernes Land mit exotischer Kulisse. Dass die Geschichte nicht ins Klischee abrutscht, sondern fesselt, ist nicht nur der straff erzählten Handlung zu verdanken, sondern auch der Sprache, die Oswald findet. Dank des Erzählens aus der Perspektive des Anwalts ist der Leser dem Protagonisten nie voraus und mitunter genauso ratlos. Dabei ist Oswald besonders stark, wenn er nichts sagt. Wenn Kommunikationslücken auftreten, wenn Schweigen im Raum hängen bleibt und Erklärungen ausbleiben, wenn emotionale Unsicherheit die Lippen schließt. Der eine versteht den anderen nicht und begreift nicht, warum diesem scheinbar einfache und logische Zusammenhänge nicht einleuchten. Kiani Island hat nichts gemein mit der Ordnung eines Anwaltslebens in Deutschland, es gibt keine Rechte, sondern einen, der das Sagen hat. Warum, weiß man nicht. Aus welchen Gründen Entscheidungen gefällt werden, auch nicht. Dass zu verstehen fällt dem Alten wie dem Leser schwer, während sich Erik meisterhaft in die inoffiziellen kriminellen Strukturen des anarchischen Staates eingelebt hat. Für den Vater wird die Reise zur Rosskur und zum endgültigen Absturz. Aber kurioserweise auch zur Chance. Kein Lamentieren, kein Mitleid hält Hartmut Wilke auf. Fast sachlich, aber dennoch mitreißend beschreibt Oswald wie der einstige Anwalt dramatisch aus dem Leben fällt – um jenseits aller Normen vielleicht sogar eine größere, zumindest genügsame, Zufriedenheit zu finden als zuvor.

Georg M. Oswald
Alle, die du liebst
Piper Verlag, München 2017
Alle, die du liebst bei amazon

Coverabbildung © Piper Verlag München

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