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Es lebe der Briefroman! Gérard Salem „Du wirst an dem Tag erwachsen, an dem du deinen Eltern verzeihst“

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Der im letzten Jahr verstorbene Psychiater Gérard Salem schreibt die Geschichte einer Familie betörend menschlich. Von Barbara Hoppe.

Wenn man es polemisch ausdrücken möchte, dann schreiben die einen die „Buddenbrooks“ und die anderen einfach nur einen klugen Briefroman. Was nichts anderes heißen soll, als dass man auch in kurzer, knapper Form das gesamte Panorama einer Familie mit ihren Defiziten, Verletzlichkeiten, Träumen, Enttäuschungen und ihrer großen Liebe zueinander abbilden kann. Der in Beirut geborene und in Lausanne praktizierende und dort im letzten Jahr gestorbene Psychiater und Familientherapeut Gérard Salem zeigt dies eindrucksvoll mit seinem im Jahr seines Todes in Frankreich und in diesem Jahr auf Deutsch erschienenen Roman „Du wirst an dem Tag erwachsen, an dem du deinen Eltern verzeihst“. Hier schreibt einer, der die Dynamiken einer Familie kennt. Der weiß, wie verwundbar sie einerseits ist und wie stark Familienbande dennoch sein können. Die Sachkenntnis gepaart mit seiner Liebe zum Sujet hat eine faszinierende Wirkung auch auf den Leser.

Boris, der älteste Sohn von Sophie und Lionel, wohnt und arbeitet in Genf. Sieben Jahre zuvor hat er den Kontakt zu seiner in Paris lebenden Familie im Streit abgebrochen. Nun geht es ihm schlecht. Vor Gericht tobt ein Ehekrieg, seine Söhne sind ihm entfremdet, seine Blutwerte sind besorgniserregend. Als ihm sein Therapeut Yuri empfiehlt, den Kontakt zu seiner Familie wieder aufzunehmen und einen Brief zu schreiben – einen richtigen, mit Papier und Stift – folgt Boris diesem Rat. Und löst damit eine Lawine aus, die er sich nie erträumt hätte. Nicht nur antworten ihm die Eltern, nein, nach und nach greift jedes Familienmitglied zum Briefblock und schreibt mit der Hand, was ihn bewegt. An diesen und an jenen reisen die Briefe zu den unterschiedlichen Adressaten: Charlotte, die älteste Schwester, die Zwillinge Mireille und Luc, die Eltern, der Cousin Edward aus Amerika. Und schließlich beginnen sie sich sogar untereinander zu schreiben. Selbst die Teenager der Familie bekommen Lust am handgeschriebenen Wort. Als Leser möchte man bereits nach den ersten zwei, drei Briefen das Buch zur Seite legen und einem Freund schreiben, Gedanken und Gefühle zu Papier bringen, das Herz erleichtern und Beziehungen fast so körperlich pflegen wie es Gérard Salem seinen Figuren aufzuerlegen vermag.

Dabei sprechen die Protagonisten durchaus Tacheles. Der erste Brief von Boris an seine Eltern ist ein regelrechter Wutausbruch und spart nicht mit Vorwürfen. Doch das Ergebnis ist eine reinigende Prozedur, in der Ungesagtes und auch so manches Geheimnis an die Oberfläche kommt. Wie tief der Wunsch nach familiärer Liebe, gegenseitigem Verständnis und Geborgenheit ist, zeigt sich in der Offenheit, mit der jeder Schreibende auf Vorwürfe reagiert und anderen den Spiegel vorhält. Salem offenbart damit seine eigene Haltung: Am Ende ist es die Familie, die zählt. Ihre bedingungslose Liebe. Es ist eine Familientherapie in Briefform, die Gérard Salem hier vornimmt. In jedem Mitglied schlummert der Wunsch nach Versöhnung. Doch der Autor ist klug genug, dem Leser kein zuckersüßes Happy End zu präsentieren. Die komplexe Gefühlslage, dieses Gemenge aus Liebe, Freundschaft, Schuld, Trauer und Wut inszeniert der Autor bewundernswert schlicht in Sprache und Stil jedes seiner Protagonisten. „Du wirst an dem Tag erwachsen, an dem du deinen Eltern verzeihst“ ist eine Hommage an die Familie und an die Macht des handgeschriebenen Briefs. Großartig!

Gérard Salem
Du wirst an dem Tag erwachsen, an dem du deinen Eltern verzeihst
DuMont Buchverlag, Köln 2019
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Coverabbildung © DuMont Buchverlag

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