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Ein Moment mit … Jeannette Hagen: „Wenn ich Ungerechtigkeiten sehe, dann setze ich mich gegen sie ein“

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Ein Feuilletonscout-Interview von Barbara Hoppe

Ein Moment mit ... Jeannette Hagen: „Wenn ich Ungerechtigkeiten sehe, dann setze ich mich dafür ein“
© Maya Meiners

Jeannette Hagen geht den Sachen auf den Grund. Wenn sie etwas nicht weiß, will sie verstehen. Unaufgeregt pragmatisch, ruhig, aber nicht leise, erhebt sie die Stimme für die Menschen und gegen Ungerechtigkeit. In ihrem aktuellen Buch „Die leblose Gesellschaft. Warum wir nicht mehr fühlen können“ sucht sie nach den Ursachen von Abwehr und Aggression gegenüber Geflohenen, zieht eine Linie zur nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands und zeigt die Chancen auf, die uns die derzeitigen Veränderungen bieten. In ihren Worten und Taten liegt viel Kraft. Was treibt diese außergewöhnliche Frau an?

Feuilletonscout: Jeannette, nach einer ersten großen Welle der Hilfsbereitschaft, in der die vielen ehrenamtlichen Helfer bei der Aufnahme von Flüchtlingen die Schlagzeilen beherrschten, hört man jetzt fast nur noch die negativen Stimmen. Wie erklärst du dir das?
Jeannette Hagen: Nachrichten sind aktuell, deshalb verschwinden selbst die großen Dramen relativ schnell aus unserem Fokus. Dazu kommt – und das finde ich persönlich sehr schade, dass man natürlich mit Sensationspresse weit mehr Klicks generiert, als mit der Meldung, dass zum Beispiel „Wilmersdorf hilft“ oder „Moabit hilft“ seit nunmehr fast einem Jahr unglaublich wertvolle Integrationsarbeit leisten.

Feuilletonscout: Du selbst engagierst dich stark in der Flüchtlingshilfe. Wie kam es dazu und was tust du genau?
Jeannette Hagen: Ich habe einen Grundsatz und der lautet: Wenn ich Ungerechtigkeiten sehe, dann setze ich mich gegen sie ein, dass sie aus der Welt geschafft werden. Das tue ich auf ganz unterschiedlichen Ebenen mit unterschiedlichem Engagement. Das, was mit den Geflohenen passiert, die Art, wie sie behandelt werden, die Tatsache, dass Europa sie aussperrt, in Kauf nimmt, dass sie im Meer ertrinken, ist etwas, das ich nicht ertrage. Der einzige Ausweg aus meiner eigenen Hilflosigkeit ist, zu helfen. Ich tue das, was ich kann – durch meine Arbeit und Präsenz helfen. Ich war auf Lesbos und in Idomeni und habe darüber geschrieben. Ich habe meine Eindrücke in den Sozialen Netzwerken geteilt und dadurch eine gewisse Aufmerksamkeit geschaffen. Darüber hinaus haben mein Mann und ich vor einem Monat einen kleinen Hilfsgütertransport nach Griechenland organisiert. Dazu muss man wissen, dass die Lage in den Militär-Camps, in denen der überwiegende Teil der Geflohenen untergebracht ist, einfach katastrophal ist. Es mangelt an allem, wobei das Schlimmste für die Menschen die unklare Situation und das damit verbundene lähmende Warten ist.

Feuilletonscout: Auf welche Menschen triffst du unter den Flüchtlingen? Wer kommt da zu uns?
Jeannette Hagen: In den Camps in Griechenland sind viele Familien, aber auch Frauen und Kinder, die allein unterwegs sind. Ich habe viele Menschen kennengelernt und eins sticht heraus: Sie sind unglaublich motiviert. Man sieht es daran, wie wiss- und lernbegierig sie sind. In den zwei Lagern, die ich im Sommer besucht habe, gibt es kleine Schulen und fast jeder Camp-Bewohner nimmt am Unterricht teil, um Deutsch oder Englisch zu lernen. Trotzdem – die meisten derer, mit denen ich gesprochen habe, wünschen sich nichts sehnlicher, als irgendwann wieder in ihre Heimat zu können.Jeannette Hagen: Die leblose Gesellschaft

Feuilletonscout: In der Politik scheiden sich die Geister über den richtigen Umgang mit den Flüchtlingen. Welchen Rat würdest du unseren Politikern geben?
Jeannette Hagen: Oh, das ist ein vielschichtiges Thema. Eine Politik, die zum Beispiel mit der Zustimmung zu Waffenlieferungen dafür sorgt, dass Kriege fortgeführt werden können, sollte auf der anderen Seite auch die Verantwortung für die Folgen ihrer eigenen Entscheidungen tragen. Flucht ist eine Folge. Genau wie Flucht eine Folge von Ausbeutungspolitik ist – auch etwas, das Deutschland nach wie vor betreibt. Statt zu lamentieren und sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben, sollten wir darüber reden, wie Fluchtursachen bekämpft werden können. Was ich auch vermisse, ist die Wertschätzung denen gegenüber, die helfen. Warum greifen die Politiker nicht viel mehr auf die Ressourcen der Bevölkerung zurück? Ich verstehe nicht, wieso man das „Wir schaffen das“ von Angela Merkel derart diffamiert. Natürlich schafft Deutschland das. Wir sind ein reiches, kraftvolles Land. Die Politiker sollten aufhören, den Teufel an die Wand zu malen und stattdessen die Chancen, die in dieser Entwicklung stecken, herausstellen. Mir gefällt diese Lähmung nicht. Dieses Debattieren um des Debattierens Willen.

Feuilletonscout: In deinen Büchern, aber auch in deiner Arbeit als Coach, beschäftigst du dich mit dem Wesen des Menschen und seiner inneren Befindlichkeit. Woher kommt dieses Interesse? Und was motiviert dich bei deiner Tätigkeit?
Jeannette Hagen: Ich glaube, dass die meisten Menschen, die im psychologischen Bereich oder als Coach arbeiten, sich ursprünglich mit dem eigenen Wesen auseinandergesetzt haben und vielleicht auf die vielen Fragen keine Antworten gefunden haben. Ich war schon immer so, dass ich den Dingen auf den Grund gehen wollte. Ich will verstehen, warum Menschen so oder anders ticken. Das hat mich auch an dem Buchthema fasziniert. Warum hilft der eine, während der andere „Ausländerpack raus!“ brüllt. Es ist spannend zu sehen, dass die Essenz bei beiden im Grunde dieselbe ist. Hilflosigkeit oder Überforderung angesichts der Situation. Nur haben beide völlig unterschiedliche Bewältigungsstrategien entwickelt. Und was mich motiviert? Ich bin neugierig. Wie gesagt – allein schon etwas nicht zu wissen, ist für mich Motivation genug, mich damit auseinanderzusetzen. Außerdem ist es eine unglaublich befriedigende Arbeit, Menschen in die Selbstermächtigung zu begleiten.

Ein Moment mit ... Jeannette Hagen: „Wenn ich Ungerechtigkeiten sehe, dann setze ich mich dafür ein“Feuilletonscout: In deinem Blog Die Spaziergängerin greifst du aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen, Diskussionen und Kontroversen auf, schreibst auch schon einmal einen offenen Brief an Frau Merkel. Ist es dir wichtig, deine Stimme zu erheben?
Jeannette Hagen: Unbedingt. Ich bin in der DDR aufgewachsen, habe dadurch, dass ich mit 19 einen Ausreiseantrag gestellt habe, dem erst nach zweieinhalb Jahren stattgegeben wurde, das Unrechtssystem der DDR in fast allen Facetten kennengelernt. Damals war es gefährlich die Stimme zu erheben. Jetzt lebe ich in einer Demokratie und habe die Möglichkeit, meine Meinung zu sagen, ohne dafür eingesperrt oder ausgegrenzt zu werden. Das nutze ich. Außerdem ist es mir wichtig, eine Haltung zu haben und die auch zu vertreten. Ich möchte dazu beitragen, Missstände zu benennen und zu verändern. Das kann man nicht, indem man schweigt.

Feuilletonscout: Etwas ganz anderes ist es, wenn du mit deinem Mann Künstler unterstützt und ihr eure schöne Wohnung einen Abend zur Galerie macht. Ist die Kunst ein Ausgleich für dich?
Jeannette Hagen: Dass wir solche Events ausrichten, hat mehrere Gründe. Zum einen mögen wir es beide, Menschen um uns zu haben. Für uns war damals schon, als wir in die Wohnung gezogen sind, klar, dass wir so oft wie es machbar ist, Gastgeber sein wollen. Es ist weniger ein Ausgleich, als vielmehr eine Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen, sich auszutauschen und Schönes in die Welt zu bringen.

Feuilletonscout: Was gefällt dir an diesem „Pop-up Format“?
Jeannette Hagen: Zum einen gefällt mir die Idee, Künstlern eine Bühne zu geben. Es ist ja heutzutage nicht so leicht für Künstler, eine Galerie oder ein Ausstellungsforum zu finden. Zum anderen ist die Atmosphäre in einer Privatwohnung natürlich eine ganz andere, als in einer Galerie. Bei uns kann man sehen, wie Bilder wirken, wenn sie dann nicht an einer nackten weißen Wand hängen, sondern eben eingerahmt in einen individuellen Wohnstil. Spannend ist auch zu sehen, wie anders eine Wohnung wirkt – je nachdem, welche Bilder an den Wänden hängen.

Feuilletonscout: Wonach wählst du die Künstler aus? Ist es die Kunst, die Persönlichkeit des Künstlers oder dein persönlicher Geschmack?
Jeannette Hagen: Ich würde sagen, es ist eine Mischung aus allem. Bisher haben wir uns ja im Rahmen der Künstler bewegt, die wir persönlich kennen. Das muss aber nicht so bleiben. Vielleicht kann man sich auch irgendwann bei uns für eine Ausstellung bewerben.

Feuilletonscout: Wenn du auf deine Aktivitäten schaust, deine Beschäftigung mit dem Menschen. Was gibst du deinen Kindern mit auf den Weg?
Jeannette Hagen: Ich hoffe, das Gefühl, dass unglaublich viel machbar ist, wenn man an sich glaubt. Eine positive Grundhaltung, eine Offenheit dem Fremden gegenüber.

Feuilletonscout: Was wünschst du dir für die Zukunft?
Jeannette Hagen: Dass wir Menschen wieder mehr Liebe leben. Liebe zu uns selbst, Liebe zu anderen, Liebe zur Natur, zu unserer Erde.

Vielen Dank, Jeannette!

Jeannette Hagen liest aus ihrem aktuellen Buch „Die leblose Gesellschaft: Warum wir nicht mehr fühlen können“ am Dienstag, dem 20. September 2016 um 20 Uhr im Literatursalon des Kant Kinos in Berlin. Am 11. Oktober um 19.30 Uhr dann noch einmal in der Nicolaischen Buchhandlung ebenfalls in Berlin.

Jeannette Hagen
Die leblose Gesellschaft: Warum wir nicht mehr fühlen können
Europa Verlag, Zürich 2016
Jeannette Hagen: Die leblose Gesellschaft: Warum wir nicht mehr fühlen können bei amazon

 

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9 Gedanken zu „Ein Moment mit … Jeannette Hagen: „Wenn ich Ungerechtigkeiten sehe, dann setze ich mich gegen sie ein““

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  5. Danke für das ausführliche und wichtige Interview.
    Wilhelm-Fraenger-Gesellschaft e.V. Potsdam
    Wolfgang Hempel, Vorsitzender

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  6. Danke für das tolle Interview. Nur ein kleiner Hinweis: der Europa Verlag ist unter einem Dach vereint in München, einen eigenen Züricher Verlag gibt es nicht.

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    1. Barbara Hoppe / Feuilletonscout

      Danke für den Hinweis!

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  7. Ich kann mich nur obigem Kommentar anschließen. Danke für dieses wunderbare Interview, Jeannette!

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  8. Danke für dieses wunderbare Interview!

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