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Don’t Be a Maybe!

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oper-beitragsbildVor sieben Jahren hatte Barbara Wysockas Inszenierung vom Lucia di Lammermoor unter der musikalischen Leitung von Kirill Petrenko an der Bayerischen Staatsoper Premiere. Inzwischen ist die Produktion musikalisch runderneuert: Evelino Pidò dirigiert, Nadine Sierra gibt die Lucia, und Juan Diego Flórez glänzt als Edgardo. Die ästhetischen Defizite freilich bestehen nach wie vor. Von Stephan Reimertz.

Stellen sie sich vor, Sie sind ein Komponist im Paris des Jahres 1868, wollen eine Oper nach Shakespeares Hamlet schreiben und fragen sich, wie sie die Wahnsinnsszene der Ophelia gestalten sollen. In dieser Situation war Ambroise Thomas. Nun wäre es völlig falsch zu sagen: Er entschied sich dafür, die eine Generation ältere Wahnsinnsszene aus Lucia di Lammermoor zum Vorbild zu nehmen. Er hatte gar keine andere Wahl. Der Klassiker des aus vielerlei Fragmenten bestehenden Arioso, welche von der Wahnsinnigen mehr evoziert als gesungen werden, und die eine Einheit im Uneinheitlichen beschwören, war noch für Thomas und seine Zeitgenossen zwingend, zumal Donizetti selbst eigens eine französische Fassung hergestellt hatte. Thomas konnte gar keine andere dramaturgische Lösung ins Auge fassen. Der Vergleich der beiden Wahnsinnsarien ist sprechend. Beide setzen auf das Dahindämmern und meiden den großen Ausbruch. Sicher wäre es interessant, einmal einen Psychiater nach seiner Meinung zu dieserart künstlerischer Gestaltung des Wahnsinns zu befragen. Nadine Sierra jedenfalls bot im Nationaltheater München die von allen erwartete Passage mit einer zugleich glockenreinen und schneidend starken Sopranstimme am Ende einer der erfolgreichsten Opern der Weltgeschichte. Ein besonderer musikalischer Vorzug unserer Aufführung ist die Glasharmonika (Sascha Reckert), die dem Wahnsinn der Lucia eine nachgerade unheimliche Couleur verleiht, und die beim Publikum auch sehr gut ankam.

Lucia di Lammermoor / D. Proszek, D. Sierra / Foto (c) W. Hoesl

Gefällt Ihnen der Verlobte Ihrer Schwester etwa nicht?

Nichts wäre falscher als zu glauben, Sujet und Handlung von Lucia di Lammermoor gingen uns nichts an. Das Gegenteil ist der Fall. Beinah täglich beschäftigen sich deutsche Gerichte mit »Ehrenmorden«, meist begangen von Vätern oder Brüdern muslimischer Mädchen, die einen nichtmuslimischen Mann heiraten oder einen muslimischen Mann nicht heiraten wollten. Die Dunkelziffer von Fällen, wo es nicht zum Mord kommt, wo aber Druck und Gewalt in der Familie herrschen, dürfte weit größer sein. Allerdings haben wir kein Recht, auf unsere muslimischen Mitbürger herabzuschauen. Meine Oma hätte noch in den Dreißigerjahren große Schwierigkeiten bekommen, wenn sie einen evangelischen Mann hätte heiraten wollen. Wahrscheinlich wäre es unmöglich gewesen, und das gilt noch für ihre ganze Generation. Lucia di Lammermoor, eine von jenen Opern Geatano Donizettis, die sich seit ihrer Uraufführung (1835 am S. Carlo in Neapel) einer ununterbrochenen Aufführungsgeschichte erfreuen, verlegt das alltägliche Familiendrama ins Schottland des späten siebzehnten Jahrhunderts; darauf jedenfalls hat man sich im Laufe der Aufführungsgeschichte trotz des widersprüchlichen Librettos von Opernroutinier Salvadore Cammarano geeinigt. Ein Librettist ist halt kein Historiker. Norditaliener wie der Komponist ist auch der Kapellmeister in München, Evelino Pidò. Der sympathische Maestro leitet ein ungewöhnlich biegsames, federndes Bayerisches Staatsorchester, welches sich am vergangenen Mittwoch, als wir die Aufführung besuchten, als ideales Donizetti-Orchester erwies. Allerdings hat der Komponist den Orchestermusikern in seiner abwechslungsreichen, dankbaren und immer wieder überraschenden Partitur auch einiges zu bieten: namentlich die Hornisten können sich über Langeweile nicht beklagen, wenn es gilt, mit jagdlichen Sondervorführungen nordisches Ambiente in die italienische Musik hineinzuzaubern. Auch die Holzbläser werden verstärkt beschäftigt, da der düsteren Farben viele gebraucht werden, um das ebenso blutvolle wie blutige Liebes- und Familiendrama auszubreiten.

Lucia di Lammermoor / G. Musliu, A. Filonczyk / Foto (c) W. Hoesl

Die Wischi-Waschi-Inszenierung

Unser vielbeschäftigter Librettist, der später auch für Giuseppe Verdi zur Feder greifen sollte, bearbeitet hier den Stoff eines Schriftstellers, der nicht nur Scott hieß, sondern auch ein solcher war. Der Roman The Bride of Lammermoor trug in seiner unheimlichen Schilderung schicksalhafter Verknüpfungen zu dem Stil der Epoche bei, den man gothic nannte, und der bis heute im Aufzug von Jugendlichen weiterlebt, die sich das Gesicht bleich schminken und ansonsten ein gruftiges Aussehen zur Schau tragen. Sich an heutigen Grufties zu orientieren, verschmähte Kostümbildnerin Julia Kornacka ebenso wie Regisseurin Barbara Wysocka, die hier als ihre eigene Bühnenbildnerin auftritt, darauf verzichtete, die Möglichkeiten moderner Lichtregie in Anspruch zu nehmen, düster abstrahierte Effekte zu erzeugen oder etwa das Drama in eine liebevoll rekonstruierte historische Konkretion zu stellen. Was man statt dessen zu sehen bekommt, ist ein Wischi-Waschi-Bühnenbild; ein immer mehr verrottender Saal, man weiß nicht, ob aus einem Privathaus oder einer Firma, konventionelle Stadttheaterchoreographie, und Kostüme, die vage auf die 1950er Jahre anspielen. Italienische Mafia-Familie oder gar italo-amerikanische? Oder lediglich wildgewordene Oligarchie? Das wirkt alles sehr beliebig und steckt voller ästhetischer Unzulänglichkeit. Nur noch Deutschen kann man heutzutage eine solche Maybe-Inszenierung vorsetzen. In Barbara Wysockas Heimat sind die Theaterbesucher viel zu gebildet und kultiviert, sei es am Teatr Wielki, sei es an der Opera Krakowska, sei es im Bereich des Sprechtheaters, als sich eine derart unbestimmte, dramaturgisch unentschiedene Vorstellungswelt vorführen zu lassen. Da hilft auch ein Straßenkreuzer-Cabriolet im amerikanischen Stil nicht viel, der im Laufe der Aufführung einige Blessuren abkriegt, nicht anders als die Protagonisten. Andrzei Filoncyk als Ashton bestach mit einer disziplinierten und starken Stimme und Darstellung, ebenso wie Granit Musliu als Bucklaw. Neben Nadine Sierra in der Titelrolle war es vor allem Juan Diego Flórez als Edgardo im Lumberjack, welcher Ohren und Herzen der zumeist weiblichen und oft auch jugendlichen Besucher ansprach. Das Opernhaus war am Mittwoch fast voll, zumal die Sicherheitslücken zwischen den Zuschauern aufgegeben wurden. In der Pause sah man die eine oder andere stoffliche Gewordenheit, die man sogar als Kleid bezeichnen konnte. München eine Modestadt? Das ist ein Gerücht! Eines aber ist München durchaus: Eine der Hauptstädte der italienischen Oper.

Bayerische Staatsoper München
Gaetano Donizetti
LUCIA DI LAMMERMOOR
Musikalische Leitung / Evelino Pidò
Inszenierung: Barbara Wysocka

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