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dokumenta fifteen: Eine Ermutigung in vier Schritten

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Aus dem Dickicht der Schuldzuweisungen ins Gespräch finden – die Skandalisierung der documenta fifteen, unsere Art zu kommunizieren und die Notwendigkeit der eigenen Erfahrung. Eine Ermutigung in vier Schritten. Von Martin Schmidt.

1. Wenn Laisser-faire zum Problem wird

Die Aufregung um antisemitische Stereotypen auf der documenta fifteen in Kassel, die schon im Vorfeld der Ausstellung wuchs und sich dann konkret an zwei Figuren des Monumentalgemäldes „People‘s Justice“ des indonesischen Kunstkollektivs Taring Padi entzündet hat, ist verständlich, sollte aber nicht dazu herhalten, die komplette Ausstellung bzw. die beteiligten Künstlerinnen und Künstler zu diskreditieren. Befremdlich bleibt, dass die documenta GmbH und die Kuratorengruppe Ruangrupa offensichtlich nicht genau hingeschaut haben bei einem Bild, das an so prominenter Stelle vor dem Kasseler Friedericianum präsentiert werden sollte. Oder sich letztere nichts dabei gedacht hat, weil hier Bildtypen vermischt werden, deren Herkunft auf verschiedene Kulturkreise zurückgeht, die im indonesischen Kontext nicht die gleiche Wucht entwickeln wie in Deutschland. Unverständlich und ärgerlich bleibt vor allem das fehlende Krisenmanagement der documenta GmbH, die Kommunikationsdefizite und die Zurückweisung jeglicher Verantwortung. Insofern war der Rücktritt der Generaldirektorin Sabine Schormann wohl kaum zu vermeiden, auch wenn die Verantwortung beileibe nicht nur bei ihr liegt, sondern auch bei den anderen Mitgliedern der documenta GmbH und deren Aufsichtsrat. Symptomatisch für erhitzte Gemüter bleibt hier einmal mehr die Fixierung auf die „Schuldfrage“, anstatt den Mustern, nach denen wir Antisemitismus be- und ver-urteilen, ernsthaftere Aufmerksamkeit zu widmen. Köpfe rollen zu lassen ist nie konstruktiv, sondern verhindert oft genau die Auseinandersetzung, die geboten ist. Im Zuge der Empörung gab es von verschiedenen Seiten überschießende Reaktionen, die hier nicht verhandelt werden sollen.

ruangrupa, v.l.n.r. Ajeng Nurul Aini, farid rakun, Iswanto Hartono, Mirwan Andan, Indra Ameng, Daniella Fitria Praptono, Ade Darmawan, Julia Sarisetiati, Reza Afisina, 2019, Foto: Jin Panji

2. Kollektive Praxis und Heterogenität

Die Künstlergruppe Taring Padi hat sich für die beanstandeten Figuren in ihrem Bild meines Erachtens glaubhaft entschuldigt. Das macht die Verwendung antisemitischer Stereotypen nicht ungeschehen, eröffnet uns aber doch die Gelegenheit, über kulturelle Unterschiede bzw. Praktiken der Aneignung „fremder“ Bildmotive nachzudenken. Der amerikanische Anglist Michael Rothberg hat darauf hingewiesen, dass es in den 1930er Jahren eine Migration antisemitischen Gedankenguts nach Indonesien gab, angestoßen durch deutsche Nationalsozialisten, die von den damaligen niederländischen Kolonialisten unterstützt wurden (in der Berliner Zeitung vom 5. Juli 2022). Offenbar verzahnen sich in der Bildsprache von Taring Padi verschiedene Muster, die sowohl dem traditionellen indonesischen Erbe entnommen sind als auch importierte europäische Topoi rezipieren. Diese Vermutung wird gestützt von der Aussage Detlef Gerickes, der von 1998 bis 2003 die Programmarbeit des Goethe-Instituts Jakarta verantwortete und der sowohl mit der traditionellen wie zeitgenössischen indonesischen Kunst vertraut ist (im Deutschlandfunk in der Sendung Kulturfragen vom 31. Juli 2022). Er sagt, dass „People‘s Justice“ das erste Bild indonesischer Provenienz sei, auf dem er eine antisemitische Figur gesehen habe, er aber dem Künstlerkollektiv grundsätzlich keine antisemitische Ausrichtung unterstellt, sondern eher eine missverstandene Übernahme westlicher Figurenmuster konstatiert.

Bei den Bildern Taring Padis greifen zudem die Stereotypen der Agitprop-Kunst, deren ungebrochene Vitalität sie in „ihrem“ Standort im ehemaligen Hallenbad Ost anschaulich zelebrieren. Die Ingredienzen dieser Kunst sind in der Regel rustikal und arbeiten mit mal mehr, mal weniger groben Vereinfachungen, um Anschaulichkeit herzustellen. Das muss niemand mögen, aber bevor wir diese Art der bildnerischen Auseinandersetzung kritisieren, sollten wir die ganz andere Dringlichkeit berücksichtigen, die diese visuellen Produktion angetrieben hat und immer noch antreibt. Seit 25 Jahren arbeitet sich Taring Padi an den Hinterlassenschaften der über 30-jährigen indonesischen Diktatur ab (1965-98), in der die älteren Mitglieder teilweise selbst Leidtragende der Repressionen dieses Regimes gewesen sind, das auch mithilfe westlicher Regierungen bzw. deren Geheimdiensten stabilisiert wurde. Die Gruppe setzt diese Erfahrung in Beziehung zu all dem anderen schrecklichen Unrecht, das die Mehrheit der Menschheit bis heute ertragen muss. Das rechtfertigt nicht die Benutzung antisemitischer Stereotypen, weshalb es richtig war, das Bild „People‘s Justice“ wieder abzuhängen, da selbst eine Figur, die eines Juden mit Schläfenlocken und gelben Zähnen, hier „ausreicht“, um solches zu veranlassen. Genügt das aber, um der ganzen Künstlergruppe und ihrer Bildproduktion Antisemitismus vorzuwerfen?

Hier sprengt die Praxis des Kollektiven offensichtlich die Grenzen inhaltlicher Homogenität. Der Urheber der beanstandeten Figuren ist bereits verstorben und die Motivation seiner Darstellung lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Zweifellos haben Berichterstattung und Empörungsfuror dazu beigetragen, das Werk Taring Padis, wie es sich im Hallenbad Ost präsentiert, zu popularisieren. Beim Besuch dort habe ich deutlich mehr Besucherinnen und Besucher gesehen als an anderen Standorten der documenta fifteen.

1080×720, © documenta fifteen 2022

3. Bereitstellung der Spielwiese

Lumbung, die Praxis der gemeinschaftlich betriebenen Reisscheune, in der Überschüsse gelagert werden, um sie im Notfall gerecht wieder zu verteilen, ist Ruangrupas Modell für die documenta. Die Künstlerkollektive sollen ihre Werke, Erfahrungen und Wissen in das Gemeinschaftsprojekt der Großausstellung einbringen und sich gegenseitig an den eingebrachten Überschüssen bedienen. Und der zweite zentrale Begriff Nongkrong beinhaltet mehr, als es seine verkürzte Übersetzung suggeriert – gemeinsam „abhängen“ steht bei uns unter dem Generalverdacht der Faulheit, des Unproduktiven, dem Verschleudern von Lebenszeit, während die Indonesier die Vorteile einer geschützten Sphäre nutzen möchten, die Kreativität und produktive Begegnung ermöglicht. Vielleicht ist das eines der größten Missverständnisse der kuratorischen Praxis von Ruangrupa, die hier offensichtlich mit unserem individualistischen Selbstverständnis kollidiert, das sich aus der Vorstellung nährt, vor allem die Einzelleistung offenbare das wahre Potenzial eines Menschen. Dabei können natürlich sowohl das Kollektiv wie der Einzelne scheitern oder eben Großes und Wichtiges vollbringen – nichts spricht also dagegen, anlässlich der documenta in Kassel mal die Probe aufs Exempel zu machen und die kollektive Praxis ins Kraut schießen zu lassen. Ruangrupa bereitet den Künstlerinitiativen für 100 Tage eine riesige Spielwiese (ja, ich weiß, auch das Spielerische steht ja oft unter dem Verdacht des Unernsten und mithin nicht wirklich „Bedeutenden“ …), und wir haben die Chance, dabei zu sein und zu sehen, was „Gruppenarbeit“ bewegen kann. Nehmen wir nur als Beispiel die Fondation sur le Niger, deren Arbeiten im sogenannten Hübner-Areal zu sehen sind, wo u. a. eine filmische Dokumentation die Motivation der beteiligten Akteurinnen und Akteure vorstellt. Sie handeln nach dem Prinzip der Fürsorge, indem sie junge Menschen in verschiedenen künstlerisch-handwerklichen Fertigkeiten ausbilden und ihnen damit die Gelegenheit eröffnen, ihr Potential zu entwickeln und in die Gesellschaft zurückzugeben. Und natürlich gibt es viele weitere kollektive Akteure auf der documenta, die nach ähnlichen Prinzipien arbeiten, nicht nur aus „dem Süden“. Project Art Works etwa aus Hastings widmen sich der Ausdrucksvielfalt neurodiverser Künstlerinnen und Künstler.

Ich spreche hier nur von den Kollektiven, deren Arbeiten ich gesehen habe, der größere Teil der documenta fehlt mir noch. Aber schon jetzt kann ich sagen, dass mich der kollektive Ansatz der Beteiligten begeistert. Und er macht auch Sinn im Licht der Tatsache, dass nicht wenige aus zerfallenden Staaten kommen (Mali, Haiti), sie also aus der Not auch eine Tugend machen, denn das auf sich allein gestellte Individuum ist dort machtlos, die Gruppe hingegen erzeugt eine Sicherheit, die fragil sein mag, aber die Akteure beim gemeinsamen Handeln stärkt.

Machen also alle diese Menschen nicht Ernst mit dem Beuysschen Begriff der sozialen Plastik?

Friedrichsplatz, Kassel, 2022, Foto: Nicolas Wefers

4. Hingehen zur documenta fifteen und selber schauen!

Also lasst uns einen ehrlichen Dialog führen. Um Michael Rothberg zu zitieren: „In diesem Dialog könnte sich zudem eine Gelegenheit eröffnen, zu verlernen, was wir bislang als Gewissheiten erachteten.“

Wir können nicht den „globalen Süden“ (was für ein unscharfer Begriff) einladen, eine Weltkunstausstellung zu kuratieren, um uns dann zu beschweren, dass deren Protagonisten vieles anders machen, als wir es gewohnt sind. Es ist nicht das erste Mal, dass wir in der Vorstellung verhaftet bleiben, wir wüssten es besser, obwohl wir es nicht besser wissen, sondern „nur“ anders angehen. Es ist bitter zu sagen, dass es mittlerweile schon ein Riesenschritt wäre, die, deren Meinung wir nicht teilen, zu respektieren und sie zu befragen anstatt abzuqalifizieren (im „besten“ Fall) oder ihnen Inkompetenz, Fanatismus und Lobbyismus für eine „schlechte“ Sache zu unterstellen.

Ergreifen wir also die ausgestreckten Hände all dieser Künstlerinnen und Künstler, um uns berühren, verwundern, verärgern und verunsichern zu lassen – also bitte die Ausstellung besuchen und der eigenen Anschauung eine Chance geben, es lohnt sich!

Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.

2 Gedanken zu „dokumenta fifteen: Eine Ermutigung in vier Schritten“

  1. Danke Matin! Du hast der völlig überhitzten Diskussion mit guten Argumenten wieder zu einer erträglichee Temoeratur verholfen. Vielleicht hilft Deine kluge, maßvolle Betrachtung dass wir wieder miteinander sprechen – ohne Hass und Hetze.Und uns erinnern, wie wichtig es ist, ab und zu den Stand-Punkt zu wechseln. Für mich ist die documenta fifteen ein Geschenk!
    Momm

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  2. Lieber Martin ich habe deinen Beitrag mit Interesse gelesen. Absatz
    Meine Schwester Barbara ist zur Zeit hier in Wilhelmshaven
    Und ich werde sie nach meiner Rückkehr von meiner Reise nach Portugal
    In Kassel besuchen und dann mir mit ihr die Documenta in Kassel ansehen.
    Ich danke dirFür deine wertvollen Hinweise.
    Mit lieben Gruß auch an Doris,
    Hartmut

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