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Die Buddenbrooks von der Ruhr

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LiteraturIm Dezember 2018 endete der Kohlebergbau im Revier, der letzte Kumpel ging nach Hause. Seitdem transzendiert sich das Ruhrgebiet zu einem Kulturgebiet. Jede Zeche wird Kunstzentrum. Alles hat nur noch auf den großen Familienroman aus dem Pott gewartet. Der ist jetzt erscheinen. Lektürenotizen von Stephan Reimertz.

Die Ruhr schimmert silbern unter den Straßenlaternen
auf der mächtigen Brücke.
Ein Knarzen und Klackern ist rund um die Uhr zu hören, die
Stahlproduktion kennt keine Nachtruhe.
Ich bin am richtigen Ort, denkt Wilhelm, als die Kirchturmuhr
zwölfmal schlägt
.
Noch nicht ganz da, wo ich hinwill, aber da, wo ich hingehöre.

Eva Sichelschmidt hat den Familienroman Westdeutschlands und zugleich einen der großen Familienromane der deutschen Literatur vorgelegt. Mit Westdeutschland ist hier nicht Hamburg oder München gemeint, sondern wirklich der Westen. Bis wieder einer weint, ein mit frappanter Sprachkunst ausgeführtes Parlando, ein Epos des Verfertigens der Erinnerung in der gesprochenen Sprache, eröffnet auf ganz neue Weise den Blick in die Geschichte der Bundesrepublik. Voraussetzung für das vielhundertseitige Epos ist eine entwaffnende Erinnerungsleistung; die Alltagsdetails, welche die Autorin wie eine Perlentaucherin aus dem tiefen Brunnen der Vergangenheit heraufzufischen vermag. Schon ihre Kenntnisse von Markenartikeln könnte bestenfalls eine Verkäuferin bei Harrods überbieten. Interessanterweise ist dieses Herunterbeten von Markennamen auch bei klassischen Autoren, die sehr an Ökonomie interessiert waren, wie Balzac und Zola, nicht üblich gewesen; bei Sichelschmidt freilich ist auch dies immer Erzählen, nicht Aufzählen.  Ein außerordentliches, wohl vorwiegend eidetisches, Gedächtnisphänomen ist diese Autorin. Wie sie sich an all die Ausdrücke, Umstände, Markennamen, Gepflogenheiten, Kleinigkeiten erinnern kann, ist eine kognitive Spezialleistung und hat an sich noch nichts mit Literatur zu tun. Doch wie Goldstaub bläst die Autorin ihre Erinnerungsschätze dem Erzählstrom ein, und mit dem hüpfenden Parlando der vielen Stimmen, die hier zusammenklingen, ergibt sich die schimmernde Brillanz dieses wunderbaren Romans.

Erinnerung und Gedächtnis

Rosen, gottweißwoher so schön,
in grünen Himmeln die Stadt
abends
in der Vergänglichkeit der Jahre!
– Gottfri
ed Benn

Bis wieder einer weint spielt im Ruhrgebiet, einem Teil Deutschlands, der für einen charmanten und kommunikativen, direkten und witzigen Menschenschlag bekannt ist. Aufgrund der außerordentlich harten und gefährlichen Arbeit im Bergbau hat sich in der Arbeiterschaft ein Ehrenkodex herausgebildet, der Verlässlichkeit, Kameradschaft und gegenseitige Hilfe hochhält. Der Arbeiter aus dem Ruhrgebiet ist der Aristokrat der deutschen Gesellschaft. Er verfügt über weit bessere Manieren als der ständig fluchende „Schimanski“, den der Berliner Schauspieler Götz George als einen Ruhrgebietler spielt, wie man ihn sich in Filmkreisen vorstellt. Mit der Realität hat das nichts zu tun. Die Gegend ist dreisprachig: Neben westfälischem Platt und dem sprachschöpferischen Ruhrgebietsdeutsch wird klares Hochdeutsch gesprochen. Im Ruhrgebiet herrscht ein gegenüber anderen Gegenden des Landes weit überdurchschnittliches Sprachbewusstsein vor. Wer gewohnt ist, hohe literarische Ansprüche zu pflegen, der wird Eva Sichelschmidts Liebes-, Ehe- Familien- und Pubertätsgeschichte im Schatten alter Fördertürme nicht gern aus der Hand legen. Trotz seiner entwaffnend konservativen Poetik wird der Roman den Leser mit seiner charmanten und zupackenden Sprache von den immer neuen  Möglichkeiten des traditionellen Erzählens überzeugen. Es ist vor allem die Sphäre der Frauen und Kinder, in der die Ich-Erzählerin in Bis wieder einer weint eintaucht und aus der heraus sie die Männer beobachtet. Der Topos „Deutsche Hausfrau“ ist eben weit mehr als eine Kategorie in Nackedei-Zeitschriften, er ist eine soziale und politische Realität, deren Einfluss man nicht unterschätzen sollte. Die aufgeweckte Protagonistin zeichnet zunächst den Weg der Eltern nach, wobei die Erzählerin virtuos – und drucktechnisch unterschieden – zwischen auktorialem und Ich-Erzählen hin und herwechselt.

Buchcover: Rowohlt Verlag

Eine deutsche Familie

Die Hochzeit von Wilhelm und Inga, der Eltern der Protagonistin, wird mit der ganzen Belegschaft in der Werkshalle gefeiert; und es ist ein besonderes Verdienst dieses Romans, an Alltag, Sorgen und Nöte von Industriellen, aber auch an ihre familiäre Verbundenheit mit den Arbeitern zu erinnern. Ein Fabrikant aus dem Ruhrgebiet braucht keinen Sozialdemokraten, der ihm erklärt, was ein Arbeiter ist, obwohl er noch nie einen gesehen hat. Der Roman erfrischt den Leser mit den normalen Menschen, die hier auftreten; ganz im Gegensatz zu den zwanghaft-paranoiden Kleinbürgern, die sich meist in der neueren deutschen Literatur tummeln. Sichelschmidt hingegen entfaltet das Panorama einer deutschen Familie, und mit großer Eindringlichkeit werden auch Unternehmersorgen und ihre Auswirkung auf die ganze Familie geschildert; wenn sich etwa internationale Konflikte wie die Ölkrise ereignen, wenn die Nachfrage einbricht. Das ganze Land ist davon abhängig, doch die Pseudointellektuellen wollen davon in der Regel nichts wissen, nehmen den Kulturbereich als Geisel, und lassen in denselben nur ihresgleichen hinein. Sichelschmidts Roman behauptet Menschlichkeit und soziale Realität angesichts eines abgehobenen und realitätsfernen linksliberalen Kulturmilieus. Für westfälische Fabrikantenfamilien ist die enge Bindung an die Region und ihre Menschen ebenso typisch wie die Präsenz auf dem Weltmarkt. Sie gehören zur Oberschicht, sind jedoch von den Superreichen der so genannten „Ruhrlade“, den Krupps, Thyssens, Haniels usw., ebenso zu unterscheiden wie vom westfälischen Uradel, den Altenbockum, Volmestein, Torck oder Schlippenbach, der zum ältesten des Landes gehört; wenngleich sie zu beiden sozialer Gruppen in enger Verbindung stehen.

Tief im Westen

Die traditionelle Arbeiterschaft im Ruhrgebiet ist überwiegend katholisch und konservativ. Es gibt auch katholische Unternehmerfamilien, die Mehrheit der Unternehmerschaft freilich ist evangelisch. Eva Sichelschmidt macht uns insofern mit einem Sondermilieu bekannt, als die Familie in Bis wieder einer weint einer freikirchlichen Gemeinde angehört; diese Kreise scheinen offenbar weniger kulturaffin zu sein. Die katholische Ikonographie und eine Romananlage, die zu gleichen Teilen in der Arbeiter- wie der Unternehmerschaft spielte, hielte freilich die Möglichkeit einer Verdichtung bereit, durch die man dann ein Epos wie Hundert Jahre Einsamkeit in der Hand hätte, zumal der Bergbau in der deutschen Literatur hoch symbolisch aufgenommen wurde, man denke nur an Novalis oder Baader. Dafür dürfen in Sichelschmidts Familiengeschichte Kinder fernsehen; sie sehen die gleichen amerikanischen Filme, hören die gleiche Musik wie die Arbeiterkinder. Zusammen mit der Protagonistin erleben wir den qualvoll sich hinziehenden Tod der Mutter, die im Münchner Klinikum Rechts der Isar an Leukämie verstirbt, nachdem sie bei einem Empfang bei Arndt von Bohlen und Halbach in der Georgenstraße unerwartet umgekippt ist. Fortan darf sich die Ich-Erzählerin mit dem alleinerziehenden Vater, der Realschule und der Pubertät herumschlagen, welche sich hier keineswegs so witzig entfaltet wie bei Jan Weiler.

Der Roman als Beitrag zur Geschichtsschreibung

Die Geschichtsschreibung leistet ihren Teil, aber es ist doch die Dichtung, es sind solche Epen, welche die Geschichte in sich aufheben. Außerdem wird die Kulturgeschichte ein solches Werk wie den neuen Roman von Eva Sichelschmidt als Quellenwerk nutzen wollen, denn alle diese Wörter, Namen, Titel und Gegenstände kann man in Büchern oder im Internet schwerlich recherchieren. Der Roman spart auch nicht an den schmerzvollen und peinlichen Details der Pubertät. Ausgerechnet in der Nacht, da sie mit ihrem Vater im Hotel das Bett teilt, bekommt die Ich-Erzählerin ihre erste Periode. „Die Matratze des Doppelbettes, in dem ich zusammen mit meinem Vater schlief, sah eines Morgens aus, als hätte jemand eine ganze Flasche Heinz Tomatenketchup auf ihr ausgeleert.“ Die Szene wäre eines William Faulkner würdig. Der Vater drückt dem Zimmermädchen zwanzig Mark in die Hand. „Man könnte ja sonst was denken…“

Eine Geschichte der Bundesrepublik

In der Realschule wird das „Bonzenkind“ in der Pause von herumlungernden Jungs verprügelt, ausgeschlagene Zähne und eine gebrochene Nase sind die Folgen. Wer in jener Zeit zur Schule ging, da Sozialneid Staatsdoktrin war, weiß: solche Szenen sind keine Übertreibung.

Der Epochen- und Familienroman spielt im Ruhrgebiet, allein er ist eine Geschichte der ganzen Bundesrepublik. Und vieles, was vergessen, fällt einem wieder ein dank des verblüffenden Erinnerungsvermögens der Autorin – so etwa der Slogan Petting statt Pershing u. v. m. Das reiche sozialgeschichtliche Material in diesem Werk ist stets eingeschmolzen in eine Erzählung von geradezu novellistischer Prägnanz und quicklebendiger Fabulierfreude, die sich in Lesevergnügen ausmünzt. Bis wieder einer weint ist eine wunderbare, teilweise erschütternde Lektüre, dabei nicht zuletzt sozialgeschichtlich höchst bemerkenswert.

Eva Sichelschmidt
Bis wieder einer weint
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020
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