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Beglückende CD-Neuerscheinungen

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Feuilletonscout Das Kulturmagazin für Entdecker MusikMusik hören – Eintauchen in ein Universum erotisierender Klänge – Freude an neuen musikalischen Perspektiven und Ausloten im nüchternen Alltag ausgeschlossener emotionaler Ausnahmesituationen – durchs Dunkel ans Licht mit einem der aktuell weltweit besten Dirigenten und Orchester: François-Xavier Roth und das französische Originalklangorchester „LES SIÈCLES“. Lassen Sie sich verführen!
Von Ingobert Waltenberger.

„Le Sacre du Printemps“, „Petrouchka“, „L’Oiseau de feu“: frisch wie am ersten Tag

1913-2013: Über hundert Jahre ist es her, dass Igor Stravinsky und Serge Dhiagilev mit dem „Sacre““ monumentale Spuren im (Pariser) Musik- und Ballettleben hinterlassen haben. Auftrag genug für den charismatischen Dirigenten Roth, diese Partituren auf französische Art und den Erstwillen des Komponisten nachspürend, für Konzert und Tonträger zu erarbeiten. Schon seit 2008/09 beschäftigt sich das Orchester „Les Siècles“ mit der Interpretation dieser drei großen Ballettmusiken Stravinskys auf historischen Instrumenten.

Durch die historisch gewandete Orchestrierung erfahren wir eine andere emotionale Wahrheit über Wesen und Programm der fabulös exotischen Tanzmusiken von Stravinsky, dieses Pablo Picasso der Musik des 20. Jahrhunderts. Wenn sich etwa die mit Darmsaiten bespannten tiefen Streicher mit den französischen Fagotten von 1900 mischen, beginnen sich erstaunlich fremd schillernde Klang-Glasperlen zu formen. Ein anderes Beispiel: Blechbläser mit kleiner Bohrung sind zwar vom Volumen her enger dimensioniert, bewirken aber mit ihren eigenen pastelleneren Farben und einer mitteilsameren Diktion einen wärmeren Ausdruck als brillant-moderne Instrumente es vermögen. „Man findet ein dumpfes, bedrohliches Zittern vor Angst, aber auch Gewalt: Das Orchester schreit manchmal, wie in die Enge getrieben. Es gelingt einem, Stravinskys kompositorisches Schaffen von einer anderen Warte aus zu erfassen. „Le Sacre du Printemps“ erklingt hier einmal nicht wie eine weitere stalinistische Variante des zornigen Ungestüms eines Shostakovich, sondern auf eine fesselndere Weise archaischer und subtiler grundiert. Das vorchristliche Russland, das brutal hämmernde Aufschäumen der Natur, das panische Erwachen der universellen Kraft im Kleide litauischer Folklore und rhythmisch vulkanischer Energie, all das erfährt bei Roths Interpretation einen neuen Sinn, eine logischere Balance. “Primitiver” und urtümlich  mächtiger klang Le Sacre nie.

„Für die Instrumentalisten von „Les Siècles“ ist es alles andere als das komfortable Spiel, das man auf modernen Instrumenten haben kann.  […] Es geht auch um die Grenzen des (damals) instrumental Möglichen, um die Kräfteverhältnisse“, charakterisiert Dirigent François-Xavier Roth den entscheidenden Unterschied. François-Xavier Roth hat zudem beim Verlag Boosey &Hawkes darum gekämpft, die Rekonstruktion der Originalfassung von „Le Sacre du printemps“ aufführen zu können. Stravinsky selbst hat in seiner 1947 erstellten „definitiven Version“ manches im Vergleich zur Urfassung geglättet und vereinfacht. Jetzt ist es an der Zeit, die kühnen Höhenflüge des jungen Stravinsky zu beleben.

Einem vollkommen entgegen gesetzten musikalischen Duktus begegnen wir in Stravinskys „Petrouchka“, einer burlesken Szene in vier Bildern, in der Version aus dem Jahr 1911. Das bunte Treiben während der ausgelassenen Festlichkeiten der Fastnachtwoche in St. Petersburg bildet den Handlungsrahmen für ein tragisch endendes Puppenspiel. Zu Drehorgel und volkstümlichem Gewusel vernehmen wir einen Zauberer am Werk, der drei Puppen (Petruschka, einen Mohr, eine Ballerina) zu Liebe und Leben erweckt. Es kommt, wie es kommen muss: Ein vermeintlicher Eifersuchtsmord beendet das Stück. Handelt es sich wirklich „nur“ um eine Puppe? Das Klavier (Jean Sugitani auf einem Pleyel-Flügel aus 1892) nimmt einen klanglich dominanten Part ein. Dieses Instrument und die quirlige Instrumentierung sichern der Musik Freiräume an Intimität, die die unheimliche Dramatik der Handlung (Leben die Puppen nicht etwa doch?) noch einmal unterstreichen.  

Im fantasiereichen „L’Oiseau de feu“, mit dem Stravinsky seinen internationalen Durchbruch feierte, schillern und gleißen die Klänge tatsächlich wie das Gefieder tropischer Papageien. Ich erinnere mich an eine Aufführung an der Wiener Staatsoper unter Lorin Maazel vom 6. Februar 1983, eine meiner prägendsten Hörerfahrungen. Jetzt bot sich mir wieder die Gelegenheit, dieses Stück so magisch zu erleben, dass die Welt danach eine andere ist. Wie zauberisch märchenhaft konnte Stravinsky den Vogel aus Gold und Feuer in Tönen malen, den Iwan Zarewitsch fängt und gegen eine Feder aus dessen Gefieder wieder freilässt. Als Iwan sich in eine der dreizehn Prinzessinnen verliebt und des bösen Kaschtscheis Wächter ihn gefangen nehmen, rettet ihn der Feuervogel. Despot und Gefolgsmänner sterben in einem infernalen Tanz, Iwan darf seine Geliebte heiraten. 

Um die Jahrhundertwende war es nicht so, dass nur die musikalische Avantgarde das Pariser Ballettgeschehen prägte. Bei vielen Choreographien wurden Werke verschiedener (russischer) Komponisten miteinander kombiniert. Am 25. Juni 1910 wurde „L’Oiseau de feu“ am Pariser Théâtre National de l’Opéra unter der Stabführung von Gabriel Pierné uraufgeführt. Am selben Abend kam auch das „Ballett „Les Orientales“, choreographische Skizzen zur Musik von Alexander Glasunov, Anton Arensky, Alexander Borodin und den Norwegern Christian Sinding sowie Eduard Grieg auf die Bühne. Inhaltlich geht es um Völker des Orients, die „an Russland angrenzen und deren Kunst einen bisweilen starken Einfluss auf die der Slawen ausübte“. Die partiell verloren gegangene Musik musste für die vorliegende Einspielung rekonstruiert und von Bruno Mantovani und Charlie Piper neu orchestriert werden.

Stravinsky: Ballets Russes
Le Sacre du Printemps
Petrouchka
L’oiseau de feu
Les Siècles | Franz-Xaver-Roth
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Beethoven: Eroica

Unerbittlich, überschäumend sind die zwei Eigenschaften, die Roths Interpretation der die wilden Emotionen Beethovens spiegelnden, von tiefem Verzweifeln bis zu einem naturgesetzlich wirkenden Wiederaufblühen in der „Eroica“ prägen. „Das ist ein Wildbach, eine Lava, die unablässig fließt.“ Roth schärft in seiner kompromisslosen Lesart die Dissonanzen, wandelt Brüche zu Abgründen, färbt Fahles in noch trostloseres Grau. Der spezifische Sound und die Besetzung des Orchesters (etwa fünf Kontrabässe als typisch französische Eigenart, mit mehr Instrumenten in der tiefen Lage für einen runderen Klang zu sorgen) sowie die buchstabentreue Realisierung etwa des mit pompös-bleiernem Schritt voran wankenden Trauermarsches münden in einzigartige, ganz außergewöhnliche Sichtweisen auf ein oft und oft gespieltes Werk. „Beethovens Tonarten – exotisch für seine Zeit – verströmen auf alten Instrumenten gespenstisch schillernde Klangfarben, während sie auf modernen Instrumenten alle gleich klingen.“ Inhaltlich gibt es sie zwar, die ambivalente Haltung zu Bonaparte und zu all den „vergessenen Helden“, dennoch ist die „Eroica“ alles andere als Programmmusik, selbst wenn sich im letzten Satz die Begeisterung für die Republik ausdrückt – weniger als politisches Programm denn als conditio humana.

Méhuls 1811 uraufgeführte Oper „Les Amazones“, deren Ouvertüre wir auf dem vorliegenden Album kennenlernen, geht historisch auf die Feierlichkeiten rund um die Hochzeit von Napoleon und Marie-Louise zurück. Ein bisschen eigenartig ist in diesem Konnex das Sujet der Oper. Sie handelt von der unerfüllbaren Liebe zwischen dem jungen Amphion von Theben und der Amazone Eriphlye, die von der Königin Antiope dazu gebracht wird, an der Schlacht von Theben teilzunehmen. Méhuls Musik, deren expressiver Charakter auch Komponisten wie Hector Berlioz beeinflusste, weist bereits klar auf die Frühromantik hin. Die Ouvertüre, von erratischer Wucht, besteht aus einem Adagio und einem heroischen Allegro agitato.

Insgesamt bezeugt auch dieses Album den Spitzenrang des Neuerers François-Xavier Roth bei der Darstellung von Heiligtümern der deutschen klassischen Musik, denen der kleine aber exquisite französische Stempel auf keinen Fall schadet. Höchste Empfehlung!

Beethoven: Symphonie No. 3 | Eroica
Méhul: Ouverture from „Les Amazones“
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