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Bayreuther Festspiele 2022: Das taubenblaue Bilderrätsel

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richard wagner porträt

Christian Thielemann dirigiert eine gloriose Wiederaufnahme des »Lohengrins« in Bayreuth. Die vier Jahre alte Inszenierung geht ins letzte Jahr. Die Bösen sind nicht mehr ganz so böse. Das Orchester kann seinen Enthusiasmus kaum bezähmen. Mit Petra Lang, Camilla Nylund, Georg Zeppenfeld, Klaus Florian Vogt und Martin Gantner steht eine Traumbesetzung auf der Bühne. Von Stephan Reimertz.

Nach den Ratten kamen die Fliegen. Die weißen und rosa Nagetiere in der »Lohengrin«-Inszenierung des inzwischen verstorbenen Hans Neuenfels wichen 2018 durchsichtig beflügelten holländischen Puritanern in der Regie von Yuval Sharon. Von diesem heißt es in der Kurzbiographie der Festspiele, er versuche, »mit seinem unkonventionellen Schaffen die Opern-Form beständig zu erweitern«. Darauf hat er freundlicherweise bei der romantischen Oper von Richard Wagner verzichtet und sich vollkommen an die konventionelle Personenregie und Chorchoreographie gehalten. Das war auch das beste, was er machen konnte. Darum sieht seine Regiearbeit in ihrem letzten Jahr auf dem Grünen Hügel gar nicht so schlecht aus, besonders wenn man sie mit dem prätentiösen diesjährigen Oster-»Lohengrin« in Salzburg vergleicht.

Besser als Salzburg

In Salzburg dirigierte Thielemann in einem ungeeigneten Saal mit überbreitem Orchestergraben und ebensolcher Bühne gegen eine verdrehte pseudohistorische Inszenierung an. In dieser Situation offenbarte die Musik etwas aufgewühlt Vulkanisches. Auch in Bayreuth sind Theater und Orchestergraben nicht für die Oper von 1850 gemacht. Doch der Kapellmeister, der wie wenig andere die Spezifika des gestaffelten, verdeckten Orchestergrabens reflektiert und ausgefüllt hat, schmiegte Wagners vor-bayreuther Werk sicher und vollendet in die neuartige Konstruktion ein. Wie schon bei der Premiere vor vier Jahren erlebten wir einen gehobenen, festlichen Abend. Ein besserer »Lohengrin« dürfte musikalisch derzeit nicht zu haben sein. Im Finale des ersten Aktes zieht Thielemann das Tempo etwas an. Der Enthusiasmus des vorzüglich disziplinierten Orchesters ist zu spüren. Selbst die fragwürdige Inszenierung von Yuval Sharon profitiert vom Vergleich mit Salzburg, wo man um jeden Preis einen auftrumpfenden Lehrsatz übers Knie brechen wollte.

Puritaner mit Flügeln

Gegen die schmucklose Schleuse mit Edouard-Manet-Figuren und herumlungernden Protagonisten der österreichischen Gemeinschaftsarbeit wirken die kindlichen Trafos und Umspannwerke in Bayreuth nun dem märchenhaften Charakter der Oper eher angemessen. Eine sinnvolle Ikonographie vermag der Betrachter freilich in dem Kinderzimmer-Bühnenbild von Rosa Loy und Neo Rauch immer noch nicht zu erkennen. Und warum Bürger von Brabant des Hochmittelalters halb wie Puritaner des 17. Jahrhunderts, halb wie Fliegen aussehen müssen, erschließt sich ihm auch heute nicht. Betritt man allerdings die Welt des Traumes und des Bilderrätsels, kommt man einer Sinnfügung schon näher. Die Bürger sind Fliegen? Schließlich macht Lohengrin am Ende ja die solche!

»Lohengrin«-Vision 2024

Mit seinem Auftrittslied »Mein lieber Schwan!« gab Klaus Florian Vogt zugleich seinen Vorschlag ab, wer der nächste »Lohengrin«-Regisseur am Grünen Hügel werden soll. So hell intoniert, jünglings- ja knabenhaft hat man das sprichwörtliche Gefiederlied noch nie gehört. Vogt schlägt also Rosa von Praunheim vor. Eine hervorragende Wahl! Der grandiose, international renommierte Regisseur würde in dieser Oper gleich mehrere dramaturgische Fragen beantworten, die seit 170 Jahren störend im Raume stehen. Endlich würde man begreifen, warum Lohengrin eine so hervorragende Figur macht, im Schlafzimmer einen Mann erschlägt, gegenüber seiner Frau aber das Schwert stecken lässt und auch sonst nichts unternimmt, und warum er am Ende doch lieber in die reine Männergesellschaft zurückkehrt, aus der er gekommen ist.

Kühle taubenblaue Farbikonographie

»Unbeholfenheit und Scheelsucht«, so Richard Wagner am 8. November 1871 zu Cosima, »das sind die Eigenschaften der Deutschen«. Wie der Abgesandte einer höheren Vernunft, man kann auch sagen: des Göttlichen, dem gestrauchelten Menschen zur Hilfe eilt, und wie er dann doch an der Kleinheit der menschlichen Natur und dem Intrigantentum der Gesellschaft scheitert, das sind die Themen im »Lohengrin«. Der Protagonist steht also in der Imitatio Christi und ist ein Verwandter seiner Zeitgenossen Alexej Karamasow und Fürst Myschkin, ebenso wie des reinen Toren Parsifal. Dessen Lernprozess freilich bleibt ihm verwehrt, und er kehrt unverrichteter Dinge zum Gralstempel zurück. Nun, nicht ganz: Immerhin findet er einen würdigen Statthalter im Herzog von Brabant. Dessen grünes Grasröcklein stimmt am gleichfarbigen Hügel heuer noch besser als 2018 zur Regierungskoalition.

Glanzvolle Wiederaufnahme

Die Stärke der Personenführung und der Darstellung besteht dieses Jahr auch darin, wie man die Motive der Gegner nachvollziehen kann Telramund wird überragend signoril gespielt und gesungen von Martin Gantner, der am Premierenabend überwältigenden Applaus erhielt. Und Petra Lang gab der Ortrud viel Menschlichkeit und Größe ein, eine satte, runde, wenn man so will: tutende Stimme. Das Intrigantenpaar wurde zum tragischen Gegner wie bei Shakespeare. Auch sie haben ihr Recht. Camilla Nylund als Elsa besticht durch königliche Haltung und einen alle psychologischen Schattierungen dieses subtilen Operndramas durchdringenden Sopran. Georg Zeppenfeld gibt einen stimmsouveränen König Heinrich, der seine Signorilität in keinem Moment eigens zu betonen braucht. Die glanzvolle Wiederaufnahme wurde bejubelt. Das Produktionsteam Sharon, Loy, Rauch traute sich noch einmal vor den Vorhang. Die paar Buhrufe für die Drei klangen arg verspätet. Auch sie erhielten Applaus, in den sich freilich auch Erleichterung gemischt haben mag.

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Ein Gedanke zu „Bayreuther Festspiele 2022: Das taubenblaue Bilderrätsel“

  1. Gute, nachvollziehbare Wertungen.Besonders Stimme ich der Holländer-Kritik zu!

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