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Balanchine 2.0

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Beim Bayerischen Staatsballett gibt sich die Tanztheater-Moderne erstaunlich konservativ. Ein steiler Dreiteiler im Prinzregententheater nennt sich gar »Paradigma«. Und in der Tat, er ist paradigmatisch: Neo-Neoklassizismus als neokonservatives Kunstmanifest. Unser Ballettomane Stephan Reimertz, Anhänger der tänzerischen Avantgarde, ist wieder einmal genervt.

Die Ernte des Münchner Ballettjahres 2021 liegt nun übersichtlich vor uns. Beim Bayerischen Staatsballett ist die Neigung erkennbar, niemanden vor den Kopf zu stoßen – außer die Anhänger der künstlerischen Avantgarde. Weitaus mutiger und Jahrzehnte weiter zeigt sich der Gärtnerplatz. Der künstlerische Leiter des Balletts, Karl Alfred Schreiner, steht mit seinem philosophisch-anthropologischen Ballett Undine zweifellos an der Spitze der Tanztheater-Moderne in München. Und das zweitägige Festival Sparks zeigte die Tänzer vom Gärtnerplatz als mutige Gefolgsleute Schreiners auf dem Weg in eine choreographische Zukunft. Schon weit weniger modern gab sich die Parallelveranstaltung des Bayrischen Staatsballetts im Prinzregententheater unter dem Motto: Heute ist Morgen. Die außerhäusigen Nachwuchschoreographen, mit Ausnahme von Özkan Ayik aus Hannover, zelebrierten zeitgenössischen Tanz irritierend nostalgisch. Der ebenfalls dreiteilige Ballettabend mit dem herausfordernden Titel Paradigma, auch vom Bayerischen Staatsballett, hatte bereits Anfang Januar seine Uraufführung. Wir besuchten nun die achte Vorstellung.

Anspruch klassischer Geltung

Ebenso wie Heute ist Morgen reizt ein Titel wie Paradigma zum Widerspruch; besonders, wenn sich der Eindruck einstellt, der hochtrabende Anspruch sei nicht eingelöst. »Veraltet ist stets nur was mißlang, das gebrochene Versprechen eines Neuen«, schreibt

Theodor W. Adorno in den Minima Moralia. Das Triptychon Paradigma wirft die Frage auf, inwiefern der neo-neoklassische Duktus dieser drei Arbeiten von vier Choreographen ernst gemeint ist, ob er sich prononciert retrospektiv versteht, oder ob die Choreographen aus Israel und England am Ende glauben, State of the Art des zeitgenössischen Tanzes zu sein. In dem Abend klafft eine breite Leerstelle: Eine Retro-Veranstaltung kann man machen, wenn sie zugleich ihre eigene Begründung ist und uns erklärt, warum wir in unserem spezifischen Moment gerade jenen Spiegel brauchen.

Surrealistische Titel

Haben wir es also mit einer neo-neoklassischen Veranstaltung zu tun, einem Balanchine 2.0, oder einer postmodernen Fiktion? Oder glauben die Choreographen aus den Ballettprovinzen Israel und England uns in Deutschland, der Wiege des modernen Tanztheaters, mit dem beglücken zu müssen, was bei ihnen zu Hause modern geheißen wird? Zunächst begrüßt uns eine Stimme vom Band, die im Deutschen geschlossene Vokale als offene ausspricht, dann aber fehlerfreies Englisch bietet. Die Titel der drei ca. halbstündigen Ballette sind in einer Art Phantasieenglisch, ähnlich dem Andalusischen Hund haben sie nichts mit dem Inhalt zu tun, wurden vermutlich mit einem Titelgenerator in Form einer Slot Machine erzeugt und sind, wenn man so will, der surrealistische Teil des Ganzen. Unter Broken Fall, so der Titel des ersten Stücks, kann ich mir nichts vorstellen außer einer neuen Teesorte.

Sinnloses Kokettieren mit Stilen und Symbolen

Die Sprachen des Balletts sind Französisch, Russisch, Italienisch und Deutsch, historisch bedingt werden in München Deutsch, Italienisch und Französisch gesprochen; warum nervt man uns vom Ballett aus permanent mit einer Art Simple English? Dann aber gibt man sich zu Beginn von Broken Fall ganz sowjetisch-neoklassizistisch, als habe der Bildhauer, der die beiden Gallionsfiguren bei der »Mosfilm« geschaffen hat, die Neufassung eines antiken Achill geformt. Dies freilich ist nichts als Attitüde, vergleichbar den Sowjetsternen an einer Prêt-à-porter-Kollektion. Das Stück von Russell Maliphant spielt die Konstellationen von einer Frau mit zwei Männern durch, L’après-midi d’une nymphe. Freilich: Wenn Waslaw Nijinskij im Jahre 1912 neoklassische Formen ins Ballett einführt, ist dies ein revolutionärer Akt, der weit in die Zukunft reicht. Was Maliphant mit seinem Rückgriff bezweckte, bleibt sein Geheimnis.

Sowjetisch, aber aufgelockert

Die Tonspur zu dieser konsequent durchgezogenen und brillant getanzten Dreier-Choreographie scheint eine zwölfjährige Alice im Wunderland des alten Apple Macintosh Kompositionsprogramms zusammengemixt zu haben. Das vermurkste Mashup beginnt mit diffusen Klängen, führt schnell in die Welt von Richard Claydermans Adeline, flirtet mit Ligetis Atmosphères und landet sodann bei einem Miles Davis für Arme, um endlich wiederum in diffusen Klängen auszuebben. Tatsächlich könnte dieser tänzerisch perfekten Ausführung eines choreographisch verfehlten Ansatzes mit einer anderen Musik noch über das Schlimmste hinweggeholfen werden. Der Mittelteil mit dem ebenso rätselhaften Titel Bedroom Folk, einer Choreographie der Israelis Sharon Eyal und Gai Behar, zeigt uns ein nachgerade militärisch daherkommendes Tänzer-Oktett, welches, wiederum im streng neo-neoklassischen Rahmen, die Möglichkeiten des Kollektivs ebenso erkundet wie jene des Individuums, sich aus ihm zu lösen. Das Ganze spielt sich vor einer jener orangenen Wände ab, die das typische Insignium der siebziger Jahre waren, in denen die beiden Choreographen ihre Kindheit in Jerusalem verbrachten. Man wollte damals mit dem penetranten Orange jegliche Konzentration des Einzelnen verhindern und ihn für die Propagandaflut jener Jahre empfänglich machen. Insgesamt wirkt Bedroom Folk wie ein gelockert sowjetisches Kunststück der späten Breschnew-Jahre. Unsere Alice aus dem Macintosh-Kompositionsprogramm-Wunderland ist inzwischen vierzehn geworden und hat gelernt, wie eine rhythmisch und melodisch eintönige Begleitung zum Tanz doch besser stimmt als ein buntes Mashup.

Modische Neo-Neoklassik

Handelte es sich bei den ersten beiden Stücken um Produktionen aus London 2003 und Den Haag 2015, erblickte With A Chance of Rain von Liam Scarlett 2014 in New York das Licht der Welt. Es nimmt also nicht Wunder, wenn diese reizvolle Produktion am engsten von allen dreien an den Großmeister des modernen neoklassischen Balletts, George Balanchine, anschließt. Tatsächlich schaut sich der Wechsel von Ensembles, Soli und Pas des Deux, welchen die acht Tänzer diszipliniert und ausdrucksstark zum Leben erwecken, wie eine Auferstehung des New Yorker Balletts aus der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts an. Hier konnte man in München mehrere emphatische Momente erleben. Das Charisma einer echten instrumentalen Aufführung im Gegensatz zum Tonband trug seinerseits dazu bei; allein die bekannten Préludes von Rachmaninow führen ein zu starkes Eigenleben, um neben sich noch tänzerische Vorführungen zu dulden.

Fazit

Der ganze Abend ist das Monument einer Regression und Verhemmung. So bleibt vom neo-neoklassischen Ballettabend vor allem der Eindruck eines tanztheatralischen Reformstaus.

PARADIGMA
Choreographie Russell Maliphant / Sharon Eyal / Liam Scarlett

Weitere Aufführungen siehe Bayerisches Staatsballett hier


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