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Auf der Suche nach Giselle

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Kaum gibt es eine zweite so zauberhafte Frucht des deutsch-französischen Kulturaustauschs wie Giselle. Ohne Heinrich Heines Geschichte der tanzenden Geister ist das Ballett der Ballette ebensowenig denkbar wie ohne das Libretto von Théophile Gaultier. Komponist Adolphe Adam war elsässischer Herkunft und schuf eine Musik von eingängiger Anmut. Jetzt hat Karl Alfred Schreiner den Klassiker am Gärtnerplatz in München neu choreographiert. Von Stephan Reimertz.

Noch vor Coppelia und den drei Tschaikowsky -Balletten ist Giselle  das Werk, an das jeder sofort denkt, wenn von klassischem Ballett die Rede ist, das Stück, das jeder gesehen hat, das Décor, das allen vertraut ist, die Musik, die die Spatzen in ganz Europa vom Dach pfeifen. Rein ballettgeschichtlich wird Giselle wohl nur von der Sylphide an Bedeutung übertroffen; beiden Werken verdanken wir den Durchbruch des weißen Ballettrocks, des Tutu. Chefchoreograph Karl Alfred Schreiner und sein Team vom Gärtnerplatz sind sich der historischen Bedeutung von Giselle voll und ganz inne und beenden ihre neue Version des Stücks mit einem Riesen-Gazerausch als Huldigung an die Traditionen des ballet blanc. Wie ein Lindwurm wälzt sich das große weiße Stoffstück in die variable Holzhütte eines Bühnenbildes, das seinerseits sehr gut aus dem I. Aufzug der Walküre stammen könnte.

Studie in Anverwandlung

Karl Alfred Schreiner ist es mit seiner Neuchoreographie gelungen, unter zahlreichen Anspielungen auf die historische Originalchoreographie die Huldigung an einen Klassiker zu formulieren und dabei seine Version doch voll und ganz seinem ganz eigenen choreographischen Universum einzufügen, wie wir es aus Werken wie Jean & Antonín oder Undine kennen. Mit letzterer hat Schreiner sich avantgardistisch und philosophisch am meisten vorgewagt. In seiner Version von Giselle nun haben wir es mit einem neofigurativ-narrativen Tanzstück als ballettgeschichtlichem Kommentar zu tun. Bühnenbildner Heiko Pfützner baut uns die größenvariable Hundingshütte, wodurch uns in jedem Moment die Topographie von Wald und Land nahbleibt, in München eh naheliegend. Amelie Lambrichts tanzte in der Premiere am Donnerstag die Titelrolle der zwischen Männern und Schicksalsmächten hin- und hergerissenen Giselle; ein weiblicher Archetyp, mit dem sich auch Frau Meier aus Schwabing identifizieren kann, selbst wenn sie nicht die Attraktivität und Körpergröße von Frau Lambrichts besitzen sollte.

Musikalisch kongenial

Kapellmeister Michael Nündel dirigiert Adolphe Adams kongeniale Ballettpartitur mit ihren allen bekannten Melodien mit jener traumhaften Sicherheit, die sich in einer Art Analogieverhältnis zum Tanzgeschehen bewegt. Denn bei Schreiner haben wir es auch hier mit einer Art Traumtheater zu tun. Illusionen – wie Schwanensee hieß das 1976 in Hamburg bei John Neumeier. Nun: Träume – wie Giselle. Nündel hat die Partitur zunächst am Schreibtisch auf ihren musikalischen Kern verdichtet und ihr z. T. kammermusikalischen Charakter verliehen. Eine vollorchestrierte Originalversion würde zu dem intensiven und traumsicheren Kammerspiel auf der Bühne auch gar nicht passen. Wie Tanz und Musik aneinander vorbeilaufen, das beschreibt gerade das Traumelement dieser Produktion. Wenig Theater gibt es wie jenes am Gärtnerplatz in München mit einem so fabelhaften Gefühl dafür, was sie können und was sie nicht können, wie sie ihre Fähigkeiten am besten einsetzen. Das sollte selbstverständlich sein? Ist es leider nicht immer. Zu Beginn des Abends wird die Latenz sehr lange spannend gehalten, z. T. auch mit avantgardistischen Klängen, welche die klassische Partitur konterkarieren. Das ist sehr gelungen und hätte noch etwas mehr ausgebaut werden können.

Aus einem Guss

Die Ballette von Karl Alfred Schreiner sind alle so etwas wie, mit Goethe zu sprechen, Bruchstücke einer großen Konfession. Sie haben einen elegisch, schwarzen Charakter. Wird die Todesverliebtheit etwas weit getrieben? Auch Marco Goeckes Version von La Strada kann man hier einbeziehen. Mit der neuen Fassung von Giselle ist ein interessanter Tanztheaterabend gelungen. Angesichts der Neuinszenierung von Hoffmanns Erzählungen am Gärtnerplatz Ende Januar schrieben wir: »Es gibt in München viele phantastische junge Modemacher und daher eigentlich keinen Grund, warum man sich öde schwarze Kostüme und rote Netzbodys vom Abverkauf bei Woolworth auf der Theaterbühne ansehen sollte.« Offenbar hat unsere Klage Früchte getragen. Alle Tänzer tragen jetzt äußerst attraktive Kostüme von Talbot Runhof. Im Zusammenwirken von Bühnenbild, Kostümen und Choreographie gelang mit Giselle am Staatstheater am Gärtnerplatz eine künstlerische Vision aus einem Guss.

Staatstheater am Gärtnerplatz
Gärtnerplatz 3
80469 München

Weitere Informationen und Aufführungstermine hier

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