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Anne Reineckes Romandebüt ist leicht wie ein warmer, zarter Sommerregen

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Der steile Weg zu den Marmorklippen„Leinsee“ erfrischt und hinterher blüht und grünt und duftet die Welt ein kleines bisschen mehr. Rezension von Barbara Hoppe

Als Karl an den Ort zurückkehrt, an dem seine Eltern glücklich waren, gibt es diese schon fast nicht mehr. Das erfolgreiche Künstlerehepaar Ada und August Stiegenhauer, das die Hochglanzmagazine jahrelang mit Geschichten versorgte, ist im Verschwinden begriffen: Die Mutter liegt schwer krank im Krankenhaus, der Vater greift dem unvermeidlichen Ende und einem Leben ohne seine Frau vor und erhängt sich im Wohnzimmer des gemeinsamen Hauses. Für Karl, der inzwischen selbst zu den angesagtesten Künstlern Berlins gehört, bedeutet die Rückkehr auch die Konfrontation mit dem Ruhm seiner Eltern und dem Leid, das dieser in seine eigene Kindheit brachte. Kompliziert wird es, als Ada Stiegenhauer nach ihrer Operation wider Erwarten erwacht, noch weiterlebt, irgendwie.

Karl kommt in so etwas wie eine Krise. Sein Leben, seine Kunst erscheinen ihm irgendwie nicht richtig. Unter falschem Namen verlebte er die Schulzeit in einem Internat – damit der Name der berühmten Eltern ihm keine Nachteile bringt. Seine Kunst, die vor allem aus dem Vakuumieren verschiedenster Objekte besteht, scheint ihm plötzlich albern, belanglos. Er stromert durchs Haus, besucht die Mutter, will nicht zurück nach Berlin. Zudem steht noch seine schöne Freundin Mara vor der Tür, versteht ihn nicht mehr und will das alte Leben mit Karl zurück, während gleichzeitig der Buddy Holly-Verschnitt eines Assistenten der Eltern mit nervtötender Präsenz das Vermächtnis Ada und August Stiegenhauers umsorgen will.

Bis eines Tages Tanja in Karls Garten auftaucht. Ein kleines Mädchen, das ihn neugierig beobachtet, ihm zum Motor seiner Kreativität wird, ihm Halt gibt auf wankendem Boden. Es soll der Beginn einer Beziehung werden, die auch zehn Jahre später noch nicht vorbei ist.

Treffsichere Sprache

Anne Reinecke findet für ihre Geschichte eine Sprache, die luftig-leicht ist und dabei gleichzeitig so natürlich wie modern, ohne trivial zu sein. Wir sehen die Welt mit Karls Augen, fühlen und denken mit ihm, erkennen sein Genervt-, Traurig oder Planlos-Sein wieder. Situationen, die jeder Mensch tausendfach erlebt. Anne Reinecke schafft es spielerisch, sie in zwei, drei Sätze zu packen und alles zu sagen.

„Karl wollte ihm antworten. Er wollte diesen Buddy fragen, wer er überhaupt war, dass er sich hier so aufspielt. Nein, Karl wollte ihm sagen, dass es ganz egal war, wer er war, dass er nicht wiederkommen sollte, morgen nicht und überhaupt nicht. Mit diesen Augen hinter Glas und diesen Zähnen. Solche großen, blanken, nassen Adeligenzähne. Aber das war zu anstrengend. Also nickte Karl und schloss die Augen und wartete, bis er die Tür ins Schloss fallen hörte.“

Überschrieben sind die Kapitel mit Titeln wie „Teichgrün und orange“, „Kanarienvogelgelb und silber“, „Plastikschildkrötengrün“ oder „Kaugummigrau“. Bunte Farbkleckse in einem Roman über die Kunst, die Liebe, das Leben und den nie endenden Strom verwirrender menschlicher Gefühle. Kleckse, die bereits durch die Intensität des Wortes stark wirken und die nicht treffender hätten gewählt sein können.

Ein moderner Entwicklungsroman

„Leinsee“ ist der Ort, an den Karl zurückkehrt. Das große Haus mit dem Grundstück, dem Bootshaus und dem Atelier der Eltern. Es ist ein Heimkommen, ein Loslassen, ein Neuanfang. Ohne Pathos, ohne Schnörkel, einfach nur ganz leicht und duftig mit einem Hauch Melancholie. Vielleicht sollte man diesen schönen Roman im Mai lesen.

Anne Reinecke
Leinsee
Diogenes Verlag, Zürich 2018
Buch bei amazon kaufen oder hineinlesen

Coverabbildung © Diogenes Verlag

Rezension zum Nachhören als Podcast: hier

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