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Andrej Kurkow „Kartografie der Freiheit“

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LiteraturEin wichtiger, nachdenklicher Roman über Litauen und die hoffnungstrunkene, trügerische Sehnsucht von jungen Leuten im Dort nach einem guten Leben im Hier. Von Ingobert Waltenberger.

Der russische, in Kiew lebende Romancier Andrej Kurkow flicht mit seinem minutiösen Lebensbericht zweier junger litauischer Paare auf der Suche nach Erfüllung im Westen im Grunde einen literarischen Liebeskranz für Litauen. Der Autor ist zwölf Jahre lang mehrere Male pro Jahr nach Litauen gereist, bevor der sich ans  Schreiben machte. Seine Faszination von diesem Land, seinem Volk, seiner Geschichte und Kultur überträgt sich direkt auf die Leserschaft. Im Nachwort diagnostiziert Kurkow, dass Litauen mehr als andere Länder unter dem europäischen Traum leidet. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Grenzkontrollen sind mehr als 30 Prozent der litauischen Bevölkerung ins alte Europa – wie er es nennt – ausgewandert. Die Osteuropäer träumten noch von einem Europa, in dem sie satt und glücklich sind. Die Bewohner des alten Europas hätten das Träumen aus seiner Sicht schon lange verlernt. Das Vereinigte Europa sei für sie etwas Banales, Altmodisches und Lästiges, das ihren Erwartungen und Hoffnungen nicht gerecht geworden ist.

Und so macht sich Kurkow oder besser gesagt, machen sich Klaudijus und Ingrida nach London, Barbora und Andrius nach Paris auf. Nur Renata und der Tierarzt Vitas verzichten auf ihre nebulose Sehnsucht nach Italien (Rom oder Venedig?) und bleiben in Pienagalys. Sie hätten andernfalls Renatas hochbetagten Großvater Jonas auf seinem abgelegenen Hof alleine zurücklassen müssen, mit nichts anderem als seinen vermodernden Erinnerungen an seine verstorbene Frau und an die einst emigrierten Eltern von Renata – das Baby war zu der Zeit erst drei Monate jung – , die nie zurückgekehrt sind.

Den alles verbindenden Faden der episondenreichen Erzählung finden wir in Kukutis, einem alten Mann mit Holzbein, der wie der fliegende Holländer nicht sterben kann. Im Holzbein hat er allerlei Geheimfächer für Papiere und Rasierklinge, sofort denkt einer an Dalis surreale Figuren mit den Schubladen im Bein. Kukutis wandert auf den Spuren der jungen Litauer, die das Land gen Westen verlassen haben und weiß, wo und wann ihnen ein Unglück zustoßen wird. Wenn etwas passiert, leidet Kukutis unter Herzschmerzen. Es sticht. Wenn es ganz unten sticht, ist ein Litauer in Südamerika in Not. Meistens ist es aber Europa, vielfach Paris, das sich schmerzensreich meldet.

Sein Kamerad im Schützengraben konstatierte: „Im Krieg wird Europa klein.“ Als gute Seele aller, die ihre Heimat verlassen (haben), sucht er nach der verlorenen Zeit, in der West- und Osteuropa ein Ganzes, nur Europa waren. Er tut das nicht sentimental und noch weniger rückwärtsgewandt. Kukutis, wahrscheinlich das alter ego des Autors, ist im Roman der weise Kommentator, aber auch der mit seiner eigentümlichen Road Story auf eigenen Pfaden Suchende, ein mythischer Augenzeuge des 20. Jahrhunderts. Er will wissen, aus welchem Grund es zwei Gruppen von Europäern gibt, woran die einen all ihre Hoffnungen knüpfen, während die anderen in ihrer Selbstverständlichkeit und Trägheit verharren.

Das Atout des Romans sind die vielen Begebenheiten und wahrlich nicht immer nur erfreulichen Erfahrungen, die auf junge innereuropäische Migranten warten. Aber auch der im Duktus eines modernen Heimatromans gehaltene Erzählstrang aus Litauen gibt aufschlussreiche Einblicke in das Leben in Litauen, die Historie und bereitet so viel Verständnis für ein Land auf, das seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine in Medien vor allem profan als die gefährdete Nordostflanke der NATO bezeichnet wird. Der Bezug zu Deutschland ist evident: In Litauen übte die deutsche Panzergrenadierbrigade 41 „Vorpommern“. Deutschland will, wie das auf dem jüngsten NATO-Gipfel in Madrid erhärtet wurde, auch in Zukunft die Kampftruppen-Brigade in Litauen anführen. Derzeit hat das NATO-Bataillon 1600 Soldaten, die Bundeswehr ist mit 1000 Einsatzkräften vor Ort. Da die sicherheitspolitische Lage so angespannt ist wie noch nie seit der wiedererlangten Unabhängigkeit des Landes vor gut 30 Jahren, gibt es ein neues wehrstrategisches Konzept für die Region. Soweit zu den aktuellen Nachrichten, die wie so oft auf einer abstrakten Metaebene stecken bleiben.

Cover: Haymon Verlag

Wer mehr über Land und Leute, die litauische Mentalität und die Einordnung in westeuropäische Haltungen und Lebensweisen erfahren will, dem sei dieser wortmächtige und eindringlich geschilderte Roman ans Herz gelegt. Viel ist von Eis, Schnee und winterlichen Stürmen die Rede. Kurkows Sprache liegt – wie dies auch seine letzten Romane „Die Kugel auf dem Weg zum Helden“ und „Die Welt des Herrn Bickford“ offenbaren – einerseits in der satirisch fantastischen Erzähltradition eines Gogol oder Bulgakow. Als europäischer Erzähler drängt ihn, und wohl auch uns, die Frage nach Freiheit, deren Sinn und Traumwert, die in den von Krisen aller Art und jetzt auch noch Krieg auf europäischem Boden geprägten Umbruchszeiten virulenter denn je geworden ist.

Dabei soll sich niemand vom deutschen Titel des Buches irreleiten lassen. Im Original heißt der 2016 in russischer Sprache erschienene Roman „Eine Schengener Geschichte. Litauischer Roman“. Genau darum geht es im Buch. Um die Verführungskraft der gefallenen Grenzkontrollen, die sich eröffnenden Möglichkeiten und lockenden Gedanken, die Lust an spontanen Grenzüberschreitungen und Abenteuer. Freiheit? Ja, die gibt es für alle, die Geld haben, Umsicht walten lassen und minutiös auf alle Eventualitäten vorbereitet sind.

Das gilt nicht für die Protagonisten im Roman, die glauben, in Paris oder London lässt es sich einfach besser leben als in Litauen. Zumindest in Paris ist wenigstens das Wetter besser. Der Autor hält wissend fest: „London, aber auch Paris und New York hatten nicht so viel Glück zu verteilen, wie Menschen kamen, um es dort zu finden.“ Ganz und gar erschütternd ist, wie naiv und unbedarft die Vier die Sache angehen, mit ein paar Hundert Euro in der Tasche, rudimentären Sprachkenntnissen und ohne Krankenversicherung. Ihre idealisierten Vorstellungen knallen mit aller Wucht auf eine beinharte ökonomische Realität. Gerade im untersten Einkommenssektor ist der Wettbewerb am härtesten und die Risiken schäumen am geballtesten. Allerdings ist gerade dieser entscheidende Faktor nicht auf Europa beschränkt, sondern gilt für alle Migranten global. „Die Situation war klar: Wie es ihnen ging, interessierte keinen. Nur sie selbst. Sie waren zwei Spielsteinen, die man hoch in die Luft geworfen hatte. Das Schicksal spielte mit ihnen, und sie versuchten, mit dem Schicksal zu spielen.“

Die von Kurkow kreierten Figuren haben im Laufe des Romans nicht nur mit äußeren Widrigkeiten zu kämpfen. Unter verschärften Stressbedingungen leiden oft die persönlichen Beziehungen, geraten Ideale mit Realem in unauflösliche Konkurrenz wider jede idyllische Zweisamkeit.

Kurkow ist ein begnadeter Erzähler mit hoher Empathie für die handelnden Personen, die im Laufe der Buchs für den Leser fast zur Familie werden. In einfacher Sprache spannt der Autor den Bogen von Osten nach Westen und verfolgt ihn wieder zurück. Seine Geschichte der drei Paare mit den sechs individuellen Schicksalen lässt schon deshalb niemanden kalt, weil sie ins Herz existenzieller Themen treffen. Unter welchen Bedingungen und wo wollen wir in Zukunft leben? Daran knüpfen sich unzureichende Richtungsentscheidungen einzelner samt ihren unabwendbaren Folgen. Wo viel Hoffnung blüht, scheint auch viel Licht, kann aber auch die siedende Hölle lauern.

Der 61-jährige Kurkow ist eine schillernde Figur in der ukrainischen Literatur. Von den elf erlernten Sprachen hat er noch sechs parat. Er versuchte sich als Zeitungsredakteur und Kameramann, schrieb Drehbücher fürs Fernsehen, seit 1996 ist er freier Schriftsteller.

Sein neuester Roman „Kartografie der Freiheit“ ist trotz der über 600 eng gedruckten Seiten kurzweilig. Unterteilt in viele kleine Episoden, die abwechselnd in Paris, London, Litauen oder auf Kukutis Wanderschaft spielen, bleibt die Spannung hoch.

Die Übersetzung hingegen ist kein Ruhmesblatt. Da kommt immer wieder das zumindest für meine Ohren so fürchterliche „l Wort“ vor, das jedes Mal wie ein Faustschlag im österreichischen Sprach-Solarplexus landet.  Es finden sich folglich Formulierungen wie „die leckere Süße im Mund“ (S. 125), „Aus der geöffneten Butterdose strahlte ein Stück leckere gelbe Butter.“ (S 203) oder „Die Luft roch nach einem leckeren Mix aus orientalischen Aromen.“ (S 130). Ebenso befremdlich: „Der Junge holte aus einer Schüssel, die mit einem niedlichen Stepptuch bedeckt war, …“ (S. 203).

Das Lektorat hätte genauer arbeiten können: Auf Seite 146, zweiter Absatz „Andrius steckte die zwanzig Euro ein, nickte dem Jungen zu, der schon am Einschlafen war und verlies (natürlich verließ) leise das Zimmer.“ Auf Seite 159 finde ich folgende Blüte: „Klaudijus drehte sich um  schaute und auf die Sessellehne,..“ Da stimmt doch was mit der Wortfolge nicht.

Abgesehen von diesen im Ganzen gesehen peripheren Einschränkungen haben wir mittlerweile Freundschaft mit dem wunderbaren Andrius (der sich in Paris als Clown um hospitalisierte Kinder kümmert), der selbstbewussten Ingrida in London oder dem quer durch Europa autostoppenden alten Kukutis geschlossen. Süchtig könnte man werden nach den Büchern von Kurkow, der derzeit zumindest hierzulande vielleicht am meisten gehörten literarischen Stimme aus der Ukraine.

Andrej Kurkow
Kartografie der Freiheit
Haymon Verlag, Innsbruck 2022
bei amazon
bei Thalia

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