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Am Ende der Straße. Nackt und ausgeraubt

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Die Menschheit hungert nach Schönheit und Liebe. Daniel Barenboim und das West-Eastern Divan Orchestra spielen Tschaikowski und Richard Strauss
Blick über die Jedermann Bühne 2015 am Domplatz /

Franz Welser-Möst dirigiert Aribert Reimanns Oper Lear. Ein Höhepunkt der Salzburger Festspiele 2017. Stephan Reimertz besucht die Fürsterzbischöfliche Felsenreitschule.

Am Stadttor von Jüterbog hängt an einer Kette ein martialischer Knüppel, darunter eine Tafel mit der Aufschrift: »Wer seinen Kindern gibt das Brodt / und leidet nachher selber Not, / den schlage man mit der Keule todt.« So könnte man auch The Tragedy of King Lear zusammenfassen, die William Shakespeare Anfang des Siebzehnten Jahrhunderts schrieb. Der König teilt vor der Zeit sein Reich unter zwei Töchtern auf, lässt die dritte leer ausgehen, dabei erweist sich die Lieblingstochter Cordelia als die einzig ehrliche, seiner und des Reiches würdige. Doch sie wird von ihrem Erbe nichts erhalten. Weh dem, der ehrlich ist! Ihre Ehre bringt Cordelia um alles, zum Schluss gar um ihr Leben. Auch Lears Schicksal ist schlimmer als das des Hiob. Diesem wird alles genommen und alles wieder zurückerstattet. Lear indes geht am Ende leer aus. Familie und politische Gegner lassen ihm nichts, nicht einmal die Tochter und das nackte Leben. In seiner großen Tragödie ergreift Shakespeare Partei für die Betrogenen, Ausgeraubten, Ermordeten seiner und aller Zeiten. Der Dichter, dem der Verlag die Tantiemen schuldig bleibt, der Erbe, dem eine diebische Familie alles nimmt, der Wanderer, der des Nachts von Unbekannten überfallen und ausgeraubt wird, der Flüchtling, den Kriege und Terror, Ergebnis jahrhundertealter Kolonialpolitik, aus seinem Land treiben, und der in den Ländern, die diese Politik verschuldet haben, ungern geduldet wird, der Ehrliche, den ein offenes Wort das Leben kostet; sie alle können sich in Lear und Cordelia wiedererkennen. Zugleich stellt die Tragödie die Frage nach der Legitimität politischer Herrschaft.

“When we are born, we cry that we are come to this great stage of fools,” heißt es in dem Stück, das mit einigen der bekanntesten Aussprüchen von William Shakespeare aufwartet. Regisseur Simon Stone, Bühnenbildner Bob Cousins und Kostümbildnerin Mel Page haben sich einiges einfallen lassen, als sie diesen stage of fools in der Fürsterzbischöflichen Felsenreitschule zu Salzburg für die Opernfassung des Lear von Aribert Reimann Wirklichkeit werden ließen. Die extrem breite, asymmetrische Bühne und die dahinter in den Felsen geschlagenen Logen aus dem späten Siebzehnten Jahrhundert sind eine Herausforderung, an der manche Produktion gescheitert ist, die aber einige Regisseure auch zu neuen Lösungen provoziert hat. Dieses Jahr hat sich das Regieteam wieder einmal von dem schwierigen Bühnenraum auf neue Ideen bringen lassen. Der erste der zwei Teile von Reimanns Lear spielt in einem Unkrautbeet, hintersinnige Metapher der heillosen Welt, in welcher der Mensch dem Menschen ein Wolf und Güte die erfolglose, aber umso heller strahlende Ausnahme ist. Der zweite Teil zeigt die fast dreieckige Raute der Bühne erst als politisches Schlachtfeld, dann als Irrenhaus. Wurde auch die Irrenhaus-Metapher in den letzten Jahren und Jahrzehnten von Opernregisseuren etwas überstrapaziert – man denke nur an den diesjährigen, völlig misslungenen Parsifal in Wien – muss man dem internationalen Regieteam in Salzburg doch ein großes Kompliment manchen. Es gelang, Aribert Reimanns höchst anspruchsvolle Oper in einer angemessenen Bildsprache und überzeugenden Personenregie visuell zu transformieren. Der zweite Teil wartet zudem mit einer ungewöhnlichen Überraschung auf, in der das Publikum selbst thematisiert wird. Die vereinzelten Buhrufer – die freilich von der Menge der Jubelnden übertönt wurden – müssen sich also fragen lassen, wie man denn nach ihrer Meinung dieses komplexe Musikdrama an solch schwieriger Spielstätte noch besser hätte inszenieren können.

Lear 2017: Gerald Finley (König Lear)
Lear 2017: Gerald Finley (König Lear) / © Salzburger Festspiele / Thomas Aurin

Aribert Reimann hat diese Oper mit Anfang vierzig komponiert. Sein Lear, 1978 am Münchner Nationaltheater uraufgeführt, sollte sich als Jahrhundertwerk erweisen. Es gehört schon eine ursprüngliche musikdramatische Kraft und ein ungewöhnlicher Theaterinstinkt dazu, Shakespeares düsterste Tragödie in Klang umzusetzen. Die musikalischen Mittel von Reimann scheinen hier geradezu unbegrenzt, seine musikalisch-dramatische Phantasie immer wieder verblüffend. Franz Welser-Möst leitet mit größter Souveränität  die Wiener Philharmoniker und den Wiener Staatsopernchor (Choreinstudierung: Huw Rhys James). Die Vielseitigkeit und musikalische Energie dieses Dirigenten, seine Exaktheit der Tempi und Einsätze, die Abstimmungen der Instrumentengruppen muss man immer wieder bewundern. So sehr die Titelrolle seinerzeit auch Dietrich Fischer-Dieskau auf den Leib geschrieben war, so sehr hat diesmal Gerald Finley unter Beweis gestellt, dass Reimanns Oper allgemeingültig ist und in allen Zeiten einen meisterhaften Protagonisten findet. Der irrende und geschlagene König ist das Spiegelbild, das Shakespeare und Reimann uns vorhalten. Der Respekt, den wir der uns nur allzu bekannten Kunstfigur entgegenbringen, ist eben jene rettende Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst, der sich in seiner conditio humana erkennt, in seinem Glanz und Elend. Anna Prohaska als Cordelia flogen alle hörenden Herzen zu. Sie zeigte uns, dass Ehrlichkeit und Treue sich auch dann lohnen, wenn man sie mit dem Leben bezahlen muss. Michael Maertens fand als Narr einen wahrhaft shakespearischen Tonfall und brachte jene komödiantische Gegenwelt in das Stück, das seine tragische Dimension nur umso fühlbarer macht. Wir leben nicht im Zeitalter von Mozart und Wagner; aber Aribert Reimann ist auch nicht schlecht. Der Komponist ehrte die Premiere mit seiner Anwesenheit, folgte beim Schlussapplaus der Einladung auf die Bühne und machte mit Gesten deutlich, wie sehr er die Bemühungen des Ensembles um eines seiner Hauptwerke anerkannte. Das Publikum bejubelte den Schöpfer und dankte ihm mit Standing Ovations.

 

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